"Hier bist du... Ich hab dich schon überall gesucht!", höre ich Charlie neben mir. Ich antworte nicht, sondern wischen mir eine Träne aus dem Auge und starre weiterhin nach vorne auf die Wiese. Nach einer Weile setzt er sich schweigend neben mich und lehnt sich wie ich an die Schuppenwand hinter uns. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er mich von der Seite schweigend anschaut. Schließlich legt er einen Arm um meine Schultern und zieht mich sachte näher zu sich. Ich lehne mich mit dem Kopf an seine Brust und klammere mich mit meiner rechten Hand an sein Shirt.
"Ich vermisse sie so.", sage ich nach einer Weile und wischen mir wieder über die Augen.
"Ich weiß. Ich kenne das Gefühl.", sagt er.
"Glaubst du, sie können uns jetzt sehen?"
"Ja, ich glaube schon."
"Warum? Was macht dich so sicher?", frage ich. Er schweigt lange, weshalb ich nach einer Weile zu ihm aufschaue.
"Charlie?"
"Hast du manchmal das Gefühl, dass dich jemand beobachtet, wenn du denkst, dass du alleine bist? Ich hab das oft. Und seitdem Fred... Seit diesem Tag ist dieses Gefühl öfters da. Ich habe das Gefühl, dass er da ist. Ich spüre seine Anwesenheit, obwohl er nicht wirklich da ist. Und in diesen Momenten kommt es mir vor, als würde er mich sehen, manchmal sogar mit mir reden. Dann höre ich seine Stimme in meinem Kopf. Ich glaube, dass er immer da ist. Wenn auch nur in meinen Erinnerungen. Aber die werden nie gehen, auch wenn Fred schon lange tot ist. Ob er wirklich irgendwo im Himmel sitzt und uns sieht, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass er immer da ist. Und dieses Gefühl stirbt sicher nicht, wie er. Das klingt total bescheuert, ich weiß.", sagt er lächelnd.
"Nein, überhaupt nicht. Das klingt schön. Ich meine, jeder Todestag meiner Eltern macht mich total fertig. Aber es wird besser. Es ist ein beruhigender Gedanke... Nie alleine zu sein..."
"Aber du bist doch nicht alleine.", sagt er und streicht mir durch die Haare.
"Tut mir leid, so hab ich das nicht gemeint."
"Ich weiß, schon ok!", meint er, während ich meinen Kopf wieder an seine Brust lege. So sitzen wir also schweigend nebeneinander und philosophieren über den Tod. Wenn ich gewusst hätte, dass es mal so weit kommen würde...
"Das gibt's doch nicht!", höre ich Charlie plötzlich flüstern.
"Was ist?", frage ich, setze mich auf und sehe ihn an. Sein Blick ist starr geradeaus auf zwei Personen gerichtet, die gerade in einiger Entfernung aus dem Nichts erschienen sind und jetzt auf den Fuchsbau zulaufen.
"Das sind Bill..."
"...und Scarlett!", vervollständige ich seinen Satz.
"Was machen die denn hier?"
"Familienbesuch schätze ich mal.", sage ich.
"Aber...", fängt er an, aber vollendet seinen Satz nicht.
"Was ist?"
"Nichts!", sagt er sofort.
"Lügner!", sage ich und sehe ihn etwas vorwurfsvoll an.
"Az! Nicht schon wieder, bitte!", meint er genervt.
"Ich sage doch gar nicht, dass du es mir sagen sollst, ich hasse es nur, angelogen zu werden." Er stöhnt und richtet sich schwungvoll auf, sodass ich zur Seite kippe. Dann läuft er mit schnellen Schritte in Richtung Haus, in dem Bill und Scarlett vor einigen Momenten verschwunden sind.
"Charlie!", rufe ich ihm hinterher. "Warum bist du jetzt so angepisst?" Dann springe ich auf und richte meine Klamotten. Er dreht sich um und kommt mir ein paar Schritte entgegen.
"Weil du immer alles wissen willst! Ich kann nicht einfach mal einen Tag über etwas nachdenken, bevor du mich schon nach meiner Entscheidung fragst. Und ich kann nichts vor dir verheimlichen. Nichts! Und jeder hat etwas, das er niemandem sagt. Aber du merkst immer, wenn bei mir was nicht stimmt und dann fragst du sofort danach. Ich kann keinen Moment meines Lebens meine Gedanken für mich behalten. Und immer fragst du nach. Immer und immer und immer wieder. Wie kann man nur so kontrollwütig sein?", schreit er. Fassungslos starre ich ihn an. Ich weiß, dass er schnell mal durch die Decke geht, aber das hier überrascht selbst mich etwas.
"Oh! Gut, ok! Dann lasse ich dich mal mit deinen privaten Gedanken alleine. Tut mir leid, dass du mir wichtig bist!", sage ich und lächele entschuldigend. Ich weiß, dass meine Art, Konflikte zu lösen, nicht unbedingt die gewöhnlichste ist, aber ich weiß, dass es nichts hilft, wenn ich ihn anschreie. Also werfe ich ihm lieber eine vor Ironie triefende Entschuldigung vor die Füße, von der ich weiß, dass er darüber nachdenken wird, bevor er wieder mit mir redet. Ich weiß genau, dass er gut im Streiten ist und ich generell verliere, weil ich das nunmal gar nicht kann. Also bin ich irgendwann auf die Idee gekommen, mich auf keinen Streit mit ihm einzulassen. Und damit ist er offensichtlich sehr überfordert, was mir wiederum Vorteile bringt. So muss ich mich keinem lauten Wortwechsel stellen und lasse ihn einfach mit viel Nachdenkstoff stehen. So haben wir schon so manchen Konflikt auf meine Gunsten gelöst.
Als ich ausgesprochen habe, starrt er mich einfach nur an. Innerlich grinse ich, aber äußerlich bewahre ich eine kühle Miene.
"Ok, ich geh dann mal wieder rein!", sage ich und drehe mich um. Dann laufe ich in Richtung Haus. Ich würde jetzt zu gerne sein Gesicht sehen.
Mit schnellen Schritten öffne ich die Haustür zum Fuchsbau und trete ein. Wie immer herrscht ein wildes Durcheinander und alle rennen kreuz und quer. Jedoch stehen mitten im Wohnzimmer zwei Personen und unterhalten sich mit Charlies Mutter, die aber schon wieder in die Küche verschwindet. Die Frau ist Scarlett. Ich habe sie vor einiger Zeit in der Winkelgasse kennengelernt und obwohl sie Charlie zum Durchdrehen gebracht hat kann ich ihr nicht böse sein. Denn wenn sie ihn nie verlassen hätte, dann hätte ich ihn wohl nie getroffen. Neben Scarlett steht ein großer Mann mit langen roten Haaren, die mit einem Lederband zusammen gebunden sind. Er macht einen sehr rauen chaotischen und wilden Eindruck, aber dennoch sieht er nett aus. Zweifelsfrei ist das Charlies großer Bruder. Bill ist, glaube ich, sein Name. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Die Haarfarbe, die Augen, das Lächeln, die Gesichtszüge... Das einzige, das ich über ihn weiß ist, dass Charlie ihm die Nase gebrochen hat, als er erfahren hat, dass Scarlett ihn mit Bill betrogen hat. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er auf ihn einschlägt.
Obwohl Charlie an Herzensgüte, Fürsorge und Freundlichkeit nicht zu übertreffen ist, kann er manchmal ziemlich ausrasten. Ich habe schon ein paar Mal erlebt, dass er entweder für zwei oder drei Stunden verschwindet und joggen geht oder sich etwas besorgt, auf das er draufschlagen kann, um seine Wut oder Aggressionen loszuwerden. Aber dass er auf seinen eigenen Bruder einschlagen würde, habe ich nie so wirklich glauben wollen.
Wieder schaue ich durch den Raum, bis mein Blick wieder an Scarlett und Bill hängen bleibt. Bill entdeckt mich als erstes. Zuerst sieht er etwas verwirrt aus, aber dann lächelt er kurz. Ich will gerade loslaufen und mich vorstellen, als ich am Arm gepackt werde.
"Wir müssen reden.", sagt Charlie und schiebt mich mit sanfter Gewalt zur Treppe.
"Was soll das?", frage ich ihn. "Jetzt willst du auf einmal reden und gerade noch hast du mich angebrüllt, weil ich reden wollte!"
"Bitte, ich will das jetzt klären."
"Ich aber nicht. Nicht jetzt. Da ist dein Bruder. Ich weiß, dass du ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen hast. Und du wirst jetzt zu ihm gehen und wenigstens so tun, als würdest du dich freuen ihn wiederzusehen."
"Das kann ich auch nacher machen."
"Vorher werde ich aber kein Wort mehr mit dir reden!", sage ich bestimmt und befreie meinen Arm. Dann setze ich ein Lächeln auf und gehe auf die Neuankömmlinge zu.
"Hallo Scarlett!", sage ich lächelnd.
"Hi Azure! Ihr seid auch da? Wo ist Charlie?", fragt sie dann.
"Der ist da...", sage ich und drehe mich um, aber Charlie ist schon wieder verschwunden. "Er ist nicht wirklich gut drauf. Aber ich denke, er kommt nacher noch runter.", erkläre ich. Dann bemerke ich, dass mich Charlies Bruder etwas fragend ansieht.
"Oh! Wir kennen uns noch nicht! Ich bin Azure.", sage ich und halte ihm meine Hand hin, die er ergreift.
"Ich bin Bill.", sagt er. "Du bist Charlies Freundin, richtig?"
"Ja, stimmt!"
"Geht es ihm gut?", fragt er dann.
"Ja, es geht ihm sehr gut. Nur im Moment ist er etwas mies drauf..."
"Ich werd mal nach ihm sehen!", sagt er dann und läuft die Treppe hoch. Na das kann ja lustig werden...--- Seine Sicht ---
Schnell laufe ich die Treppe hoch und schließe die Tür zu meinem alten Zimmer hinter mir. Dann lasse ich mich auf das Bett nach hinten fallen und fahre mir durch die Haare. Az hat schon Recht mit dem was sie sagt. Sie will ja nur, dass es mir gut geht. Aber im Moment bin ich einfach viel zu aufgewühlt, um darüber zu reden. Ich habe wirklich nicht erwartet, dass Bill und Scarlett auch kommen.
Aber ich würde mich wirklich mehr freuen, wenn sie nicht da wären. Das Problem ist hierbei nicht Scarlett. Das Problem ist mein Bruder. Ich bin noch immer so verdammt sauer auf ihn. Warum, weiß ich selber nicht. Ich weiß nur, dass ich seine Vorstellungen von Moral nicht verstehe. Er hat mich verarscht. Und zwar auf eine Weise, die ich ihm nicht so einfach verzeihen kann. Warum ich Scarlett nicht mehr böse sein kann, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass sie mir egal ist. Aber Bill ist mein Bruder. Und das wird er immer bleiben.
"Charlie?"
"Hau ab!", sage ich und sehe weiter die Decke an.
"Wie lange willst du mich noch ignorieren?", fragt Bill. Er lehnt im Türrahmen und sieht mich traurig an.
"Solange, bis das Bedürfnis, dir in die Fresse zu schlagen, verschwunden ist.", gebe ich bissig zurück.
"Charlie... Es tut-"
"Nein! Ich will es nicht hören! Dein ständiges 'Charlie, es tut mir leid!' kannst du dir sonst wohin stecken. Ich hab die Nase voll davon! Lass mich einfach in Ruhe!"
"Nein, dieses Mal nicht!", sagt er laut und läuft auf mich zu, bis er direkt vor mir steht. Da er jetzt um einiges größer ist als ich, stehe ich auch auf. Mal wieder verfluche ich meine Größe. Ich bin schon nicht der kleinste, aber Bill ist immer noch größer als ich.
"Bill, ich sag es dir jetzt zum letzten Mal! Lass! Mich! In! Ruhe!"
"Ich will aber endlich mal vernünftig mit dir reden. Und das geht nicht, wenn du immer wegrennst."
"Das könnte vielleicht daran liegen, dass ich nicht mit dir reden will."
"Du kannst aber nicht ewig davonlaufen."
"Ich laufe nicht davon. Ich versuche dich vor einer gebrochenen Nase zu bewahren."
"Du willst also zuschlagen? Gut, dann schlag zu! Ich hab es schließlich verdient.", sagt er.
"Du kapierst das einfach nicht, oder? Du hast mich verarscht. Und ich war noch nie so sauer auf einen Menschen, wie auf dich!"
"Und warum bist du dann nicht sauer auf Scarlett? Warum nur auf mich?"
"Weil sie mir egal ist!", schreie ich. "Du bist mein Bruder und hast mich so hintergangen. Der Familie sollte man vertrauen können. Aber ich kann dir nicht vertrauen!" Er sieht mich an wie vor den Kopf gestoßen. "Zufrieden? Jetzt hast du die Antwort! Verschwindest du jetzt endlich?", rufe ich, aber er bewegt sich nicht.
"Du hast es geschafft Azure zu vertrauen. Also komm mir nicht mit 'Ich kann dir nicht vertrauen!'. Wenn du wolltest, könntest du auch! Scarlett hast du verziehen. Wo liegt da der Unterschied zu mir? Ich sag es wirklich nur ungerne, aber zum Fremdgehen gehören immer zwei Personen."
"Jetzt gibst du auch noch Scarlett die Schuld. Du bist so feige!"
"Dieser Satz stammt wortwörtlich aus ihrem Mund. Und nur zu deiner Information: ich sollte dir das von ihr ausrichten. Glaub mir, ich mach das auch nur ungerne."
"Du lügst doch, sobald du den Mund aufmachst."
"Das stimmt nicht und das weißt du genau. Ich habe dich nie angelogen. Nie! Und nur weil dein Stolz es nicht zulässt, dass du über deinen Schatten springst und mir noch eine Chance gibst, brauchst du nicht automatisch alles in deiner Umgebung plattwalzen. Ok, ich habe einen Fehler gemacht, als mit Scar geschlafen habe, aber es war der beste Fehler meines Lebens. Weil ich sie jetzt jeden Tag bei mir habe. Das klingt egoistisch, ich weiß. Aber dir scheint es dadurch ja auch besser zu gehen. Du hast Azure. Oder täusche ich mich da? Scarlett erzählst du, dass du drüber weg bist und an mir lässt du deine Wut aus? Woher kommt die Wut, die angeblich abgeklungen ist? Ich glaube, du lügst dich selbst am meisten von allen an. Du solltest erst einmal mit dir selbst im Klaren sein, was du eigentlich willst, bevor zu auf mir rumhackst: Sauer sein oder Verzeihen und Weitermachen! Ich habe mich oft genug für damals entschuldigt, jetzt liegt es an dir, ob du das annimmst.", schreit er. Er sieht mich einen Moment an, dann stürmt er aus dem Zimmer.
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Die Wunde des Betrugs
Fanfiction> Dies ist die Geschichte einer Frau namens Azure, die einem Mann verfällt. Doch er ist kein gewöhnlicher Mann. Er ist ein Zauberer. Er ist Charlie Weasley... PS: ICH WÜRDE MICH ÜBER KOMMENTARE FREUEN, DASS ICH WEIß, WIE EUCH DIE STORY GEFÄLLT :)