Kapitel 10 - Mut zur Wut

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Gemeinsam verlassen wir das Kino und treten auf die nachtschwarze Straße hinaus. Es hat schon wieder angefangen zu schneien, aber es sieht einfach wunderschön aus, da die Straßenlaternen die Schneeflocken funkeln lassen.

"Charlie? Können wir noch einmal in den Park gehen, wo wir vor zwei Wochen waren? Es war so schön da!", frage ich leise. Er sieht mich lächelnd an und nickt.

Diesesmal führt er mich jedoch nicht zu der Brücke über dem See, sondern zu einer kleinen überdachten Bank.

"Sieh mal.", sagt er leise und zeigt nach links an mir vorbei. Was ich sehe, lässt mich den Atem anhalten. Wie gelähmt beobachte ich das traumhafte Schauspiel.

"Komm.", flüstert er und zieht mich vorsichtig neben sich auf die Bank. Ich lehne mich an ihn und spüre, wie er den Arm um mich legt. Meine volle Aufmerksamkeit liegt auf der Wiese vor unseren Augen. Sie wird von Bäumen begrenzt. Ihr Gras ist etwa kniehoch. Doch das, was mir wirklich den Atem raubt, sind die vielen kleinen leuchtenden Lichter, die in und über der Wiese umherfliegen. Es sind an die tausend und zusammen führend sie ein Schauspiel auf, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Und jetzt verstehe ich auch das, was meine Mum früher immer zu mir und meinem Bruder gesagt hat: Das Leben besteht nicht aus Momenten in denen wir atmen, sondern aus denen, die uns den Atem rauben!

"Sind das Glühwürmchen?", frage ich flüsternd.

"Ja.", sagt er genauso leise. Immer noch fassungslos und wie in Trance sehe ich die vielen umherschwirrenden Lichter an.

"Das ist so wunderschön.", sage ich leise und sehe ihn an. Er schaut mir in die Augen und ich ihm. Dieses intensive braun macht mich einfach wahnsinnig. Mein Blick wandert über sein Gesicht, das ich - je länger ich es betrachte - immer schöner finde. Es ist etwas kantig, was ich aber unglaublich attraktiv finde. Seine Nase ist gerade und mit Sommersprossen übersät. Als mein Blick an seinen Lippen hängen bleibt, schlägt mir mein Herz bis zum Hals. Wenn er mich jetzt nur küssen würde...

Dieser Wunsch in mir wird immer größer, je länger ich ihn ansehe. Auch seine Augen wandern über mein Gesicht und springen letztendlich zwischen meinen Augen und Lippen hin und her.

'Los! Küss mich!', denke ich, aber es passiert nichts. Wir sehen uns einfach nur an. Ich kann nicht sagen, wie lange wir das so gemacht haben. Ich gebe jedoch schließlich die Hoffnung auf einen Kuss auf. Aber dann kommt er meinem Gesicht langsam näher. Mein Herz hämmert in meiner Brust, sodass ich befürchte, sie zerreißt mir gleich. Es ist ein unglaubliches Gefühl.

'Küss mich, küss mich!' Unsere Gesichter sind gerade noch einige Zentimeter entfernt und unsere Nasen berühren sich. Sein Atem streift mir sachte über das Gesicht. Schon fast kann ich seine Lippen spüren. Doch plötzlich wendet er seinen Blick von mir ab und schaut wieder nach vorne. Mein Herz zieht sich schlagartig zusammen und jagd mir einen Dolch hinein.

"Ich sollte dich nach Hause bringen. Du bist ganz kalt.", sagt er dann ohne mich anzusehen. Seine Stimme klang seltsam kalt. Jetzt bin ich einfach nur verwirrt. Wir hätten uns beinahe geküsst, als er im letzten Moment zurückgezogen hat und jetzt ist er ganz erpicht darauf, mich nach Hause zu bringen. Und das nach dem wunderschönen Abend, den wir zusammen verbracht haben. Ich verstehe das nicht.

"Na schön.", sage ich und bemühe mich, nicht allzu traurig zu klingen. Dann nimmt er seinen Arm von meiner Schulter.

Auf dem ganzen Weg bis zu mir nach Hause sprechen wir kein Wort miteinender. Oft sehe ich ihn an, aber er hat seinen Blick starr geradeaus auf die Straße gerichtet. Meine rechte Hand stecke ich absichtlich nicht in meine Jackentasche, dass er sie ergreifen kann, wenn er will.

Aber es passiert nichts dergleichen. Als sich unsere Hände unbeabsichtigt während dem Laufen berühren, steckt er seine linke sogar in seine Jackentasche und geht etwas weiter rechts von mir, sodass zwischen uns fast ein halber Meter Platz ist. So langsam kommt mir das alles spanisch vor.

Vor der Haustür des Wohnblockes, indem meine Wohnung liegt, bleiben wir stehen. Eine peinliche Stille tritt ein, in der keiner von uns beiden weiß was er sagen soll. Wieder sehe ich ihn an. Er schaut dagegen unsicher zu Boden. Und dann tue ich etwas, was für meine Verhältnisse wirklich mutig ist. Ich mache zwei Schritte auf ihn zu, sodass ich direkt vor ihm stehe. Dann mache ich mich so groß wie möglich und küsse ihn. Zuerst passiert gar nichts, aber dann löst er sich ruckartig von mir und macht ein paar Schritte zurück. Traurig sehe ich ihn an.

"Ich kann nicht.", sagt er leise. Es ist fast ein Flüstern. "Tut mir leid." Dann dreht er sich um, steckt die Hände in die Jackentaschen und geht mit schnellen Schritten davon. Mein Herz durchzieht einen stechenden Schmerz, aber ich gebe nicht einfach so auf.

"Charlie!", rufe ich ihm hinterher, aber er läuft einfach weiter und verschwindet um eine Hausecke. Deshalb renne ich ihm hinterher und bleibe vor ihm stehen. "Warum nicht?", frage ich.

"Ich kann es dir nicht erklären."

"Aber... Ich verstehe das nicht. Vorhin wolltest du doch...", fange ich an, aber meine Stimme zittert zu sehr.

"Es tut mir leid.", sagt er wieder und schiebt sich an mir vorbei.

"Charlie!", rufe ich erneut, aber er läuft nur noch schneller. "Warum kannst du es mir nicht erklären?", frage ich laut und laufe ihm wieder nach.

"Bitte Az! Ich hab einen Fehler gemacht, in Ordnung? Und das tut mir wirklich leid!" Fassungslos starre ich ihn an. Hat er etwa eine Freundin? Oder hab ich mir nur eingebildet, dass er mich mag? Vielleicht gibt es eine Andere!

"Wie soll ich das jetzt verstehen?", frage ich den Tränen nah.

"Ich kann es dir nicht erklären. So ist es besser!", sagt er und läuft wieder an mir vorbei.

"Nein! Nichts ist so besser! So machst du es für mich nur schlimmer.", rufe ich, aber er ignoriert mich. "Charlie, sag mir doch dann wenigstens, warum du mich dann so oft sehen wolltest. Weißt du, ich dachte, du magst mich irgendwie. Bleib verdammt noch mal stehen, wenn ich mit dir rede!", schreie ich wütend und renne ihm wieder hinterher. Doch diesesmal dreht er sich tatsächlich zu mir um. Ich bleibe vor ihm stehen und sehe ihn fragend an.

"Ja, Az! Ich mag dich wirklich. Sehr sogar. Viel zu sehr. Und genau das ist das Problem.", sagt er leise. "Bitte lass es gut sein." Obwohl seine Stimme eindeutig traurig ist, schwingt nicht das geringste Anzeichen von Bedauern mit.

"Was?", frage ich verwirrt. Mittlerweile steht das Wasser in meinen Augen. "Du sagst, du magst mich viel zu sehr um mich zu küssen! Was ist denn das für eine Logik? Erwartest du jetzt, dass ich das verstehe?"

"Nein. Akzeptier es einfach."

"Wie kannst du das nur verlangen?", frage ich mit zitternder Stimme.

"Bitte Az! Mach es mir nicht noch schwerer. Glaub mir, es ist besser so!"

"Du willst also, dass ich verschwinde und wir uns nie wiedersehen?", frage ich, während mir stumm einige Tränen über die Wangen laufen. Er sieht zuerst zu Boden, doch dann schaut er mir fest in die Augen ehe er antwortet.

Die Wunde des BetrugsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt