Beth
Normalerweise verbrachte ich gerne Zeit mit Novels Geschwistern. Aber heute war alles anders. Ich nahm schweigend neben Leila platz und griff nach ihrer Hand. Sie schien sich augenscheinlich beruhigt zu haben, aber ich wusste, dass sie das lediglich spielte. Für den Vater der überraschend heimgekehrt war. Camilla steckte zuerst ihren Kopf durch die Tür, bevor sie sich mit ihrer bauschigen Roben durch die Tür schob.
„Gut, dass er noch nicht hier ist", stellte Camilla fest, worauf alle ihre Ohren spitzten. Novel und Avel waren noch nicht hier, aber selbst die Kaiserin saß bereits im Salon. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass sie den Erzherzog meinte. „Ich habe Nachricht aus Frankreich", berichtete sie und setzte sich zur Kaiserin an den Tisch. „Dorian hat eine Woche bei Freunden verbracht. Er ist zwar mittlerweile wieder abgereist, aber ihm scheint es so weit an nichts zu fehlen", berichtete sie leise. Die Kaiserin hob ihren Blick und der Schmerz, der in ihren Augen stand, ließ sich in Worten nicht beschreiben. Er trieb mir selbst Tränen in die Augen und ich unbewusst hielt ich die Luft an.
„Darf ich den Brief sehen?", fragte sie und Camilla zog ihn aus ihrer Rocktasche. Die Kaiserin verzog für einen Moment missbilligend den Mund, bevor sie Camillas Hand drückte. „Danke", flüsterte sie leise, worauf sich Camilla erhob. „Darüber, dass du mit der liberalen Bewegung in Frankreich in Kontakt stehst, sprechen wir noch", drohte die Kaiserin schwach, starrte aber unentwegt weiter auf das Briefpapier. Camilla verdrehte demonstrativ die Augen und Novels Geschwister grinsten. Verlegen sah ich zu Boden. Camilla hatte so viele Freunde und Bekannte auf der ganzen Welt. Sie war liebenswürdig und genoss einen ausgezeichneten Ruf bei Hof. Morgen sollte ich vorsichtig bei Leila nachfragen, ob zwischen Novel und Camilla wirklich nie etwas war. So langsam konnte ich das nämlich nicht mehr glauben. Leila erhob sich und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Seht Ihr, Mama? Dorian geht es gut und uns wird es auch bald wieder gut gehen"
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Ich eilte die Treppe hinunter und wäre beinahe mit Papa zusammengestoßen. Verlegen verbeugte ich mich leicht. Nach seinem Ausbruch beim Lunch hatte ich keine Ahnung, wie ich ihm begegnen sollte und mich eigentlich darauf verlassen, dass Mama den Ton angibt. Warum ich auch immer zu spät kommen musste!
„Das war nicht der Start, den ich mir gewünscht hatte", gestand er und deutete mir weiter zu gehen. Widerwillig ging ich neben ihm her. Natürlich war dieses Zusammentreffen nicht nach seinen Vorstellungen verlaufen. Aber er vergaß, dass auch wir Vorstellungen von ihm hatten. „In Dorians Fußstapfen zu treten wird nicht leicht werden, nicht wahr?", riet er, worauf ich ihn skeptisch ansah. Sollte das eine Loyalitätsprüfung werden? Wenn er hoffte, dass ich mich auf seine Seite schlug, dann hatte er sich gewaltig getäuscht. Meine Familie bedeutete mir alles und noch gehörte er für mich nicht dazu. „Dorian war ...", zögerlich hielt ich inne. Wie sollte ich in Worte fassen, was er uns allen bedeutet hat? „ ... immer für uns da. Vor allem Leila trifft es schwer, dass er gegangen ist", ergänzte ich schließlich worauf Papa die Lippen zusammenpresste. Er nickte verhalten. Das wollte er mit Sicherheit nicht hören. „Bitte verlangt nicht, dass wir so tun, als hätte es die letzten 20 Jahre nicht gegeben", sagte ich leise. Erst wenn wir mit Leone gesprochen haben, würden wir endgültig wissen, ob Dorian für immer fort bleiben würde. Solange schuldeten wir es ihm, ihn an Mamas Seite zu sehen.
„Komm, wir sind ohnehin bereits spät"
Ich drückte Beth einen Kuss auf die Wange, die mich verhalten anlächelte. Sie würde sich bald an dieses Durcheinander an Geschwistern gewöhnt haben. Camilla lächelte mich verschwörerisch an und ich schüttelte leicht den Kopf in ihre Richtung. So gerne Mama Nachricht von Dorian hatte, so ungern wird sie erfahren, dass Camilla schon wieder mit Demokraten korrespondierte. So ganz eins waren mir ihre Bekanntschaften auch nicht.
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Historical FictionDorians Flucht reißt nicht nur Lavinia den Boden unter den Füßen weg, sondern auch ihren Kindern, die mittlerweile zu jungen Erwachsenen herangewachsen waren. Novels vom Militär abgehärtete Seele vertraut sich erstmals einer italienischen Gräfin...