Kapitel 1 - Jessica

269 8 0
                                    

Ich ziehe die Wohnungstür mit einem lauten Krach hinter mir zu und hoffe, dass die anderen Bewohner davon nicht geweckt werden. Es ist kurz vor sieben an einem Samstagmorgen. Hier im Wohnkomplex wird man an diesem Tag vor 12 Uhr niemanden begegnen.

Der Aufzug ist noch immer defekt, also laufe ich, wie schon in die letzten Wochen auch, die Treppen aus dem fünften Stock hinunter. Die Wände sind mit Graffitis und Kritzeleien beschmiert, im dritten Stock riecht es, als hätte jemand den Flur als Toilette verwendet. Mit Glück bekomme ich den früheren Bus, sodass ich mich später nicht hetzen muss, um pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen.

Ich kann mein Glück noch immer nicht fassen. Als ich mich in dem Restaurant als Kellnerin beworben hatte, bin ich davon ausgegangen noch nicht einmal in die nähere Auswahl zu kommen. Dazu muss ich sagen: es handelt sich um das exklusive Restaurant Belle Vue. Was auch immer das auf Deutsch heißt.

Für das Vorstellungsgespräch musste ich mir extra etwas Schönes kaufen, das heißt bei mir, ich kaufe die Kleidung im Second-Hand-Laden und mit einem mulmigen Gefühl habe ich jeden Moment darauf gewartet, dass ich als 22-jährige Schulabbrecherin und Betrügerin entlarvt werde. Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass ich den Realschulabschluss sowie die Ausbildung bei einem italienischen Restaurant als Kellnerin in meinem Lebenslauf hinzugefügt habe, obwohl dem nicht so ist.

Ein gefälschtes Zeugnis hat mich zwar was gekostet, aber Antonio meinte, falls jemand bei ihm anriefe, würde er mich decken.

Das Vorstellungsgespräch hat der Chef, Pierre Dumont, persönlich übernommen. Pierre, so möchte er genannt werden, ist ein Mann mit stattlicher Figur um die Fünfzig und vollem Haar, das schon mit grauen Strähnen durchzogen ist. Er hatte einen französischen Akzent, den ich lustig fand. Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass er sehr wohl wusste, aus welchem sozialen Umfeld ich komme. Dennoch habe ich die Stelle bekommen.

Nach über einer halben Stunde steige ich aus dem Bus aus und muss dann noch mal über 10 Minuten in die Innenstadt laufen.

Ich gehe durch den Hintereingang hinein. Selbst hier, in den Fluren und Gängen, in denen nie ein Gast gehen wird, riecht es förmlich nach Oberschicht. Die Gänge sind sauber und gepflegt, die Wände im angenehmen gelb gestrichen.

In der Umkleide begegne ich Louisa. „Du musst auch am Wochenende arbeiten?", fragt sie mich und verzieht ihr herzförmiges Gesicht. Sie bindet sich ihre blonden Haare zu einem perfekt sitzenden Zopf zusammen. Ich hole meine Kleidung aus dem Spind: weiße Bluse mit einer bordeauxroten Anzugsweste, schwarze Hose und Schuhen. „Ich übernehme auch teilweise das Catering bei Veranstaltungen.", antworte ich ihr.

Je mehr Arbeit, desto mehr Geld. Und damit weniger Stress bei dem Vermieter. Louisa zuckt die Schultern und wirft noch mal einen prüfenden Blick in den Spiegel. „Das habe ich Gott sei dank nicht nötig. Ich arbeite hier eigentlich nur, damit ich nicht den ganzen Tag zu Hause rumsitze. Ich übernehme heute nur die Schicht von Cloé."

Wie schön für dich, denke ich bissig, andere Menschen haben es sehr wohl nötig, du blöde Oberschichten-Zicke.

Mit zügigen Bewegungen ziehe ich mich um und stoße pünktlich zu den anderen. Unser Team besteht aus sechs Kellnern. André, unser Boss, mustert uns alle nach dem anderen. „Heute Mittag steht ein großes Mittagessen mit circa 15 Personen an. Dafür möchte ich Louisa, Paul und Patrick haben. Die anderen werden dann den Rest übernehmen. Gibt es noch Fragen?" Er mustert uns mit einem strengen Blick aus seinen grauen Augen. Als würde einer von uns sich trauen, ihm eine Frage zu stellen. Er nickt, als Zeichen, dass wir an unsere Plätze gehen sollen. „Mademoiselle Schwarz, binden Sie sich die Haare zusammen." Mir schießt die Röte ins Gesicht. „Verzeihung.", murmle ich und binde mir rasch meine Straßenköter braune Haare zusammen. Eigentlich sollte ich es besser wissen, denn schon an meinem ersten Tag am Dienstag hat eine ältere Dame mich zusammengeschissen, weil sie ein Haar in ihrer Suppe hatte.

Herbststurm - Zurrenberg RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt