Kapitel 7 - Jessica

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Jeden Tag warte ich darauf, dass Carlos mich auffindet, um sich mit mir zu unterhalten. Während der Arbeit schiele ich immerzu nervös zu den Fenstern und der Eingangstür, in der Erwartung ihn dort stehen zu sehen, aber er taucht nicht auf.

Nachdem mir am Montag das peinliche Missgeschick bei Alexander von Zurrenberg passiert ist, erscheint mir die restliche Woche erschreckend langweilig. Ich reiße mich am Riemen und versuche keine Wasser- oder Weinflaschen umzuwerfen oder herunter fallen zu lassen. Ich weiß, noch ein Fehler, und ich werde ein Gespräch mit Pierre führen müssen. Und das wird nicht erfreulich sein.

Schon zu Beginn hat er klar gemacht, dass ich eine Probezeit von drei Monaten habe. Für mich hat das in erster Linie bedeutet, drei Monate ein volles und großzügiges Gehalt zu haben, um die Miete zu bezahlen.

Aber ich weiß nicht, ob es Konventionen gibt, in denen der Arbeitsgeber die Angestellten noch in der Probezeit kündigen kann, wenn es die Umstände erlauben.

Also gebe ich mir Mühe und versuche unauffällig zu bleiben.

Am Freitagnachmittag mache ich mich auf den Weg ins Jugendzentrum. Allerdings hat mir André klar gemacht, dass ich demnächst auch mal eine Abendschicht übernehmen werden muss. Das könnte an einem Freitag sein oder am Wochenende, weil gerade dann besonders viel Arbeit wartet.

Schon von Weitem höre ich die Kinder herumrennen und schreien. Heute scheinen sie besonders aufgedreht zu sein. Ich nicke Juan zu, der an mir vorbeiläuft. Mit ungutem Gefühl registriere ich sein blaues Auge. Entweder hat er sich mit Yasin geschlagen, oder aber er hat die Verletzung von zu Hause.

Ich hoffe ersteres.

Im Betreuerzimmer begegne ich Tom und Nele. Sie sind wie ich ehrenamtlich hier tätig, allerdings nur maximal dreimal in der Woche. „Hey, na. Alles klar?", fragt mich Tom, der sich eine blonde, lockige Strähne hinter die Ohren schiebt. Ich räume meine Taschen in meinen Spind. „Ja, war eine anstrengende Woche." „Willst du morgen Abend mit uns ein bisschen um die Häuser ziehen? Tom hat gerade von einem richtig guten Steakhaus geredet." Ich lehne mich an die Spind-Tür und überlege kurz.

Im Grunde genommen, kann ich es mir nicht leisten, für ein Essen Unmengen an Geld auszugeben.

Aber ich habe mir lange nichts mehr gegönnt. Außerdem könnte ich so einige Stunden aus der Wohnung entfliehen. „Ich überlege es mir." Nele klatscht aufgeregt in die Hände. „Das wäre echt toll. Dann kannst du uns ja auch mal was über dein Leben erzählen."

Sie hat es nicht böse gemeint, aber nun merke ich, wie verschlossen ich gegenüber Menschen bin, die nicht die reinste Vorstellung davon haben, wie mein Leben aussieht.

Nele und Tom studieren beide was mit Sozialwissenschaften oder Sozialarbeit oder so und sind hier nur tätig, weil sie zum einem gerne mit Kindern arbeiten, aber vor allem weil der Nachweis, hier tätig zu sein, gut in einem Lebenslauf aussieht.

Ich verabschiede mich von den zweien und gehe hinaus und in die Hausaufgaben-Ecke. Ich helfe ein paar Mädchen im Fach Deutsch, rufe Nina zurecht, die Blödsinn macht. „Tanzen wir nachher?", fragt sie mich. Ich nicke. „Klar, aber jetzt macht erstmal eure Aufgaben zu Ende." Da ich Kai noch nirgends entdeckt habe, mache ich mich auf die Suche nach ihm. Der Gemeinschaftsraum ist relativ groß und er hat teilweise verwinkelte Ecken, sodass man nicht sofort den Raum überblicken kann.

Ich sehe ihn mit einem Jungen in einer kleinen Ecke an einem Tisch sitzen. Als ich näherkomme, sehe ich auch, wer der Junge ist. Phillip, ein 16-jähriger Junge, sitzt mit hängenden Schultern am Tisch. Kai erklärt ihm leise etwas.

„Hi, störe ich?" Phillip sieht mich aus seinen dunklen Augen misstrauisch an. Er ist erst seit rund zwei Monaten hier und bisher hatte ich noch nicht viel mit ihm zu tun. Und das mit Absicht, denn Kai lässt mich mit ihm nicht allein. Vielleicht sollte er mir mal erklären, warum. „Wo sind denn die anderen zwei? Ich weiß, sie werden hier nicht bezahlt, aber es wäre schön, wenn sie ihre Zeit nicht nur im Betreuerzimmer absitzen würden." Er sieht gestresst aus und erhebt sich.

Herbststurm - Zurrenberg RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt