Schon den ganzen Tag habe ich eine beklemmendes Gefühl in der Brust. Heute ist Selinas Beerdigung. Schon seit halb Acht bin ich im Restaurant, habe Gläser und Besteck poliert, Servierten gefaltet und Tischdecken sorgfältig auf die Tische gelegt. Pierre und André behalten mich den ganzen Vormittag im Auge – als wäre ich eine tickende Zeitbombe.
Zu Hause hielt ich es nicht länger aus, nachdem ich die ganze Nacht zuvor nicht schlafen konnte.
Das störrische kleine Kind in mir möchte einfach nur den Kopf unter die Bettdecke vergraben und erst wieder aufsehen, wenn dieser schreckliche Tag vorbei ist.
Nachdem ich es um fünf aufgeben habe einzuschlafen, habe ich die Notizen zu mir gezogen, die ich mir gestern gemacht habe, als Alex und seine Schwester da waren. Mir hat der Kopf geraucht, also machte ich mir zu den verschiedenen Künstlern, Theateraufführungen und Musikern Notizen, die ich mir immer wieder bis Sonntag ansehen kann.
Ich kann mir schöneres vorstellen, als den Sonntagmittag in der Höhle der Familie Zurrenberg zu verbringen. Auf die abschätzenden und spottenden Blicke von Alex Eltern kann ich gut und gerne verzichten.
Andererseits will ich ihnen nicht den Gefallen tun und ihre Vorurteile mir gegenüber bestätigen. Also werde ich mein Bestes geben, um sie in ihrem Glauben zu enttäuschen. Und ich mache es für Alex. Wenn ich mit seiner Familie nicht klarkomme, dann kann ich ihn niemals ganz für mich gewinnen. Das würde er mir gegenüber nie zugeben, aber es ist so.
Ich könnte es ihm nicht antun, und ihn auffordern, zwischen mir und seiner Familie zu entscheiden. Ich habe schon oft seine Zerrissenheit zwischen seiner Pflicht als ältester Sohn und seinen freien Entscheidungen mit mir zusammen zu sein, gesehen.
Und das möchte ich nicht weiter anfachen.
Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich mit seinen Eltern gut zu stellen. Ich hoffe nur, dass sie es auch verstehen und am Sonntag nicht vollkommen abblocken werden.
Gerade serviere ich einem Herren mittleren Alters sein verspätetes Frühstück und er schaut mir offensichtlich auf die Brüste.
Ich bin diese Blicke mittlerweile gewöhnt und ignoriere sie einfach.
„Benötigen Sie noch etwas?", frage ich, als er mich...irgendwie abwartend ansieht. Er betrachtet mich schweigend und legt seinen Kopf schräg. „Ich bin Ihnen wohl nicht vermögend genug, was?"
„Wie bitte?" Ich verstehe nicht. „Für den jungen Herrn von Zurrenberg machen Sie die Beine breit und bei mir machen Sie keinerlei Anstalten auch nur mit mir zu flirten. Es muss also am Geld liegen.", schlussfolgert er.
Mein erster Impuls ist es, ihm sein dreckiges Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. Ich würde lügen, wenn ich sage, seit dieser Woche hat sich nichts am Umgang mit den Gästen geändert.
Viel zu oft landen die Blicke auf mir, als wöllten alle mal einen Blick auf die kleine Bedienung werfen, die nun mit Alexander von Zurrenberg zusammen ist. Und dessen Liebe er ihr vor hundert Leuten gestanden hat.
Und einige dieser Blicke sind nun mal anzüglich oder frech.
„Warum haben Sie sich nicht dem Alten an den Hals geworfen? Er ist doch für seine Bettgeschichten außerhalb seiner Ehe bekannt. Ein Vaterkomplex haben Sie demnach nicht. Bin ich Ihnen zu alt?" Er kneift kurz die Augen zusammen und ich umklammere das Tablett in meinen Händen fester. Eigentlich sollte ich gehen und nicht mit ihm reden. Es wäre besser so.
„Vielleicht mag ich keine Männer, die ein loses und beleidigendes Mundwerk haben." Meine kühle Abfuhr interpretiert er falscherweise als Flirtversuch. Seine Augen funkeln amüsiert. „Nun ja, meine Liebe, wir müssen ja nicht reden..."
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Herbststurm - Zurrenberg Romance
RomanceSie kämpft um das tägliche Überleben und hängt ihren Träumen nach. Er ist mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und buhlt um die Anerkennung seines Vaters. Jessica und Alexander führen ein Leben aus zwei verschiedene Welten und treffen durch Zuf...