Ich falle. Ich falle seitdem die Polizisten am Sonntag in der Wohnung standen und mir erklärten, dass meine Schwester sich den goldenen Schuss gesetzt hat.
Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden. Nur das kreist mir im Kopf herum. Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden.
Aber sie tat es. Selina hat sich bei mir verabschiedet, als sie meine Mutter und mich besuchte, mit der Ausrede, diesen Nachmittag aus der Klinik raus zu können. Das sie in diesem Moment aus der Klinik abgehauen und mein Konto leergeräumt hatte, habe ich erst fast eine Woche später bemerkt.
Sie sagte, sie habe mich lieb. Sie sagte, sie sei stolz auf mich. Dass ich alles richtig mache.
Sie wusste, dass sie nicht wiederkommen würde. Sonst hätte sie dieses sentimentale Zeug nicht gesagt.
Und ich habe es in diesem Moment nicht kapiert.
Damals war ich so glücklich. Den ganzen Nachmittag saßen wir zu dritt in der Küche und haben über alte, wenn auch nicht besonders schöne Zeiten, gelacht. Dann kam Alex und wir sind zusammen zu einer billigen Pommesbude gelaufen.
Ich halte mich an diesen Erinnerungen fest. So will ich Selina in Erinnerungen behalten.
Als eine fröhliche große Schwester, die vielleicht nicht immer alles richtig gemacht hat, aber mich dafür umso lieber hatte.
Die Polizei hat sich von meiner Aussage mehr erhofft, weil sie dachten, ich wüsste, woher sie die Drogen hatte. Aber ich musste sie bitter enttäuschen, denn seit jenen Nachmittag habe ich sie nicht wiedergesehen.
„Sie wird noch Mitte der Woche freigegeben. Die Obduktion verläuft recht schnell. Leider haben wir mittlerweile Routine darin.", sagte der Polizist, der mir gegenübersaß und sich erschöpft die Haare aus der Stirn wischte.
Meine Mutter wollte sie nicht noch mal sehen. Ich habe mir einen Ruck gegeben und bin die Stufen in das Untergeschoss gelaufen, über mir das grelle Neonlicht.
Meine Schwester auf der metallenen Liege sehen zu sehen hat mir die Realität vor Augen geführt. Ihre blasse, kalte Haut zu fühlen. Ich glaube, ich brauchte es, damit ich verstehe, dass sie nie wieder bei uns in der Wohnungstür stehen wird.
„Wenn Sie dennoch eine Ahnung haben, wo Sandy die Drogen herhatte, dann sagen Sie uns Bescheid. Das Zeug ist gefährlich. Irgendwann müssen wir die Leute schnappen, die diesen Scheiß auf den Markt bringen." Aus der Stimme des Polizisten hörte ich unterdrückte Wut heraus.
Natürlich hätte ich ihm sagen können, dass Selina Drogen von Carlos bekommen hatte. Auch wenn ich ihn liebend gern anschwärzen würde, es würde nichts bringen.
Carlos dealt nur mit gutem Zeug, das weiß ich. Wenn ich ihn verrate, dann dauert es keine drei Stunden und ich bekomme von einem seiner Prügelknaben Besuch.
Also bin ich still geblieben und habe die Schultern gezuckt.
Jetzt sitze ich im Jugendzentrum, umgeben von den Kindern und fühle mich verloren. Die Stimmung ist gedämpft, als wüssten die Kids, dass es mir nicht gut geht. Nun ja, besondere Fähigkeiten brauchen sie nicht, um das zu erkennen. Meine verheulten Augen mit Ringen unter den Augen sagen alles.
„Du kannst auch gehen.", bietet Kai neben mir leise an, aber ich schüttle energisch den Kopf. Damit mir zuhause die Decke auf den Kopf fällt?
Den Montag hatte ich mir freigenommen, damit ich meine Aussage bei der Polizei machen konnte. Zuvor musste ich Pierre allerdings erzählen, warum.
Er hat nur die Wahrheit akzeptiert.
Darauf hin hat er mir angeboten, die ganze Woche freizugeben. Sogar den Samstag. Dabei ist am Samstag eine große Feier geplant.
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Herbststurm - Zurrenberg Romance
RomanceSie kämpft um das tägliche Überleben und hängt ihren Träumen nach. Er ist mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und buhlt um die Anerkennung seines Vaters. Jessica und Alexander führen ein Leben aus zwei verschiedene Welten und treffen durch Zuf...