Kapitel 11 - Jessica

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Der Schock vom gestrigen Abend sitzt mir noch in den Knochen, als ich am nächsten Tag am Nachmittag zum Jugendzentrum laufe.

Ich bin ja wirklich nicht zimperlich und kann auch mal zurückschubsen, wenn mich jemand blöd anmacht, aber gestern war ich wie gelähmt. Der eine Typ stank nach Alkohol und nachdem ich ihm klar gemacht habe, dass ich kein Interesse an ihm habe, hat er nicht aufgehört, mich zu bedrängen. Als dann auch noch jemand anderes dazu kam, wurde es mir zu viel.

Nur zu oft liest und hört man aus den Medien, dass Frauen in abgelegenen Gegenden vergewaltigt werden. Und in diesem Moment dachte ich genau das. Man kann von Glück sagen, dass die Polizei gerade vorbeigefahren kam.

Und dann meint dieser arrogante Alexander von Zurrenberg, dass sein Bruder nur helfen wollte. Im Nachhinein halte ich das nicht für unmöglich, aber gestern Abend hat sich das für mich ganz anders angefühlt.

Und weil ich mir wirklich nicht hundert Prozent sicher bin, will ich nicht dafür verantwortlich sein, wenn dieser Sebastian in einem Internat landet.

Mit einem schadenfrohen Grinsen betrete ich das Jugendzentrum. Alexander und sein Bruder werden die Zeit hier sicher verfluchen. Einen kurzen Moment habe ich überlegt, ob ich Geld von ihm nehmen soll, entschied mich aber dagegen. Mit dem Geld – das ich dringend nötig habe – wäre die Sache für ihn abgehakt gewesen. Mit der Zeit hier im Jugendzentrum können sie mal über ihr Leben nachdenken.

Nicht jeder ist mit einem goldenen Löffel im Mund geboren.

Kai begrüßt mich mit einem Nicken. Ich räume mein Zeug in den Spind und gehe zu den Kids. Yasin und Juan sitzen ausnahmsweise mal am Tisch und machen ihre Hausaufgaben. Nina ist wie immer laut, ich rufe sie zur Ordnung. Weitern Mädchen helfe ich bei Englischaufgaben und mit einem Auge schaue ich zu Phillip, der heute wieder allein in einer stillen Ecke sitzt. „Hey, kommst du mal kurz?", fragt mich Kai, der sich an meiner Stuhllehne abstützt. „Klar." Ich gehe mit ihm in das Betreuerzimmer. „Unsere zwei Studenten lassen sich heute auch nicht blicken?", fragt er und setzt sich auf die Couch. Ich nehme neben ihm Platz. „Nele und Tom haben von Anfang an gesagt, dass sie nur zweimal die Woche kommen, Kai. Nicht jeder ist so wie du." Er verschränkt die Arme vor der Brust. „Wie soll ich ihnen denn dann eine gute Beurteilung schreiben, wenn sie an den wenigen Tagen, wo sie da sind, sich hier in dem Raum verkriechen?" Ich lache auf. „Das ist nicht mein Problem. Das musst du mit ihnen besprechen."

„Ich habe vorhin mit der Stadt telefoniert. Das Holz wird in knapp einer Woche geliefert. Du kannst die Ladung wohl nicht vormittags in Empfang nehmen?", fragt er mich. Ich schüttle den Kopf. „Da arbeite ich normalerweise. Und ich glaube kaum, dass ich deswegen frei bekomme." Kai fährt sich nachdenklich über die Haare. „Dann werde ich es übernehmen." Er seufzt leise. „Aber wenn es dich tröstet, wir haben im Oktober mittwochs Hilfe von zwei Leuten." „Was denn für Leute? Hast du sie angeworben, oder was?", fragt Kai belustigt und greift sich eine Packung Fruchtbären, die auf dem Tisch liegen. Er hält sie mir hin und ich nehme mir ein paar.

„Nein, angeworben nicht. Sagen wir einfach, die zwei sind mir einen Gefallen schuldig." Im Grunde ist das nicht gelogen. Und die ganze Wahrheit muss Kai nicht wissen.

„Aber es sind keine Freunde von Carlos oder so?", hakt er nach. „Dann hätte ich nämlich was dagegen." Ich beruhige ihn sofort. „Keine Sorge. Sie sind..." Tja, wie soll ich Alexander von Zurrenberg beschreiben? „Sie sind privilegierte Menschen. Sie wissen sich zu benehmen." Wenn man davon ausgeht, dass Sebastian mir wirklich helfen wollte.

„Hast du das Mädchen mit den blonden Haaren bemerkt?", fragt er mich nach einer kurzen Pause. In der Tat ist mir ein Mädchen um die 16 Jahre aufgefallen, das ich noch nie hier gesehen habe. „Was ist mit ihr?" Ich sehe, wie Kai mit sich ringt und überlegt, ob er mir die Wahrheit erzählen soll. „Sie heißt Nelly und weiß momentan nicht wohin mit sich." Er nickt an die Wand hinter der Tür. Dort sehe ich einen Schlafsack liegen. Ich runzle die Stirn. „Gerade du bist doch derjenige, der strikt dagegen ist, wenn Leute hier übernachten."

Herbststurm - Zurrenberg RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt