Kapitel 21 - Jessica

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Nervös betrete ich die Eingangshalle der Einrichtung. Obwohl mir geraten wurde, in den nächsten Tagen nicht zu kommen, möchte ich Selina nicht im Stich lassen. Ich glaube, sie braucht meine Unterstützung. Und wenn ich sie besuche, weiß sie, dass sie nicht allein ist.

Ich werde in einen großen Gesellschaftsraum geführt.

Wie überall in der Einrichtung sind die Wände in hellen und freundlichen Farben gestrichen und durch die vielen Fenster fällt viel Tageslicht herein. Ich entdecke meine Schwester allein an einem Tisch sitzend.

Ich atme noch mal tief durch und gehe zu ihr.

„Na du." Ich schubse sie an. „Schwesterchen." Sie nimmt mich in eine kurze Umarmung und ich beobachte sie unauffällig. Ihr Lächeln wirkt echt, aber unter ihren Augen sind dunkle Schatten. Ein Entzug macht noch nicht mal meine Schwester mit links.

„Wie geht es dir?" Ich lege meine Jacke ab und setze mich neben sie. „Heute geht es so. Gestern war die Hölle." Sie trommelt mit den Fingern auf der Tischplatter herum und ihr Blick irrt nervös hin und her.

„Was machst du so den ganzen Tag?" „Ich habe einen ganzen Tagesablauf." Sie hält ein Blatt Papier hoch. „Therapiestunden in Gruppen und auch allein. Nachmittags bin ich in einer Malgruppe. Ich glaube, sie wollen mich so lange es geht beschäftigen, damit man nicht auf dumme Ideen kommt."

„Und du machst das alles mit?", frage ich überrascht. Selina ist der sturste Mensch, dem ich je begegnet bin. „Das ist nicht böse gemeint. Ich weiß nun mal wie du tickst."

„Na ja, meine Betreuerin war gestern fast am Verzweifeln. Aber sie hat Geduld mit mir. Trotzdem kann ich über manche Sache hier echt nur den Kopf schütteln. Morgen kommen sie vielleicht auf die Idee, unsere Namen zu tanzen." Sie verdreht genervt die Augen.

„Ich finde es toll, dass du es versuchst. Und weiter machst." Ich muss ihr Mut zureden, damit sie die ganze Sache durchzieht, denn ganz überzeugt bin ich noch nicht.

Es ist nun mal Selina. Wenn etwas Neues, Unbekanntes beginnt, schaut sie sich die Sache an und ist motiviert bei der Sache, aber sobald es langweilig wird, verliert sie ihr Interesse. Ein paar Tage wird sie es über sich ergehen lassen, aber es kann schon morgen sein, dass sie auf die ganze Sache scheißt.

Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. „Das ganze kostet sicherlich Geld. Wo nimmst du das her?" Ich lege ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. „Das hat sich geklärt. Die Stadt hat einen beträchtlichen Teil bezahlt und ich den Rest. Ich arbeite doch im Restaurant und verdiene gut. Mach dir keine Sorgen deswegen."

Pierre um einen Vorschuss zu bitten, war gar nicht so leicht. Ich hatte eine Weile herumgedruckst und wirres Zeug gestammelt, bis er entschieden die Faust auf seinen massiven Schreibtisch geschlagen hat und mich um Klartext gebeten hat.

Als ich ihm sagte, warum ich den Vorschuss brauche, wurde er ganz still und hat ihn mir einfach gegeben.

„Ich danke Ihnen für ihre Ehrlichkeit, Jessica. Ehrlichen Leuten helfe ich immer gern.", sagte er und gab mir den Check, den ich sofort in der Bank umgetauscht hatte und das Geld habe ich direkt an die Einrichtung überwiesen.

„Und du bezahlst auch die Schulden bei Carlos ab?", fragt sie zögerlich. Ich versuche tapfer weiterzulächeln, als sie Carlos anspricht.

„Wie schon gesagt, ich verdiene gut. Mach dir keine Gedanken deswegen." Aber in Wirklichkeit wird mir schlecht bei dem Gedanken. Die kommende Woche die Fünfhundert Euro zu bezahlen ist machbar und nächste Woche auch noch, wenn ich das neue Trinkgeld benutze, aber dann dauert es noch über eine Woche, bis das nächste Gehalt kommt und davon ist ja schon einiges wegen der Einrichtung weg. Davon muss in erster Linie die Miete bezahlt werden. Und dann bleibt fast nichts mehr übrig.

Herbststurm - Zurrenberg RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt