„Kannst du mal nach Nina und Branda schauen? Ich muss die Jungs im Auge behalten, sonst gehen sie wieder aufeinander los.", bittet mich Kai. Er verdreht die Augen. „Von vierzehnjährigen Jungs kann man ja nichts anderes erwarten." „Zum Glück ist die Pubertät nur ein vorrübergehender Zustand." Kai gluckst. „Du sagst das, als würde er drei Minuten dauern und nicht mehrere Jahre."
Ich scheuche ihn lachend weg und sehe nach den Mädchen. Wegen irgendwas haben sie sich gestritten und es sind böse Worte gefallen, aber nachdem ich sie auseinandergesetzt habe, versuchen sie sich nur noch mit Blicken zu erdolchen anstatt mit Bleistiften.
Ich setze mich zu einer kleinen Lerngruppe, die leise zusammenarbeitet.
Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn jemand mich dazu ermutigt hätte, hier her zu kommen?
Ich hätte die Schule nicht abgebrochen. Da bin ich mir sicher. Und mit jedem Tag bereue ich es mehr. Das ist mir in den letzten Tagen bewusst geworden. Ich stelle mir vor, welche Möglichkeiten ich hätte, wenn ich einen Schulabschluss nachzuweisen hätte. Ich hätte nach dem Realschulabschluss eine Lehre machen können.
Dann würde ich jetzt schon mehrere Jahre arbeiten und ein sicheres Einkommen haben.
Ich hätte vom Geld Tanzunterricht nehmen können.
Ich glaube, das ärgert mich am meisten. Dass ich diese Chance vertan habe, einfach weggeworfen habe.
Ein winziger Teil in mir denkt darüber nach, Tanzstunden zu nehmen, wenn ich Alex sein Geld zurückgezahlt habe.
Alex.
Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich an seinen Kuss von gestern denke. So leicht und sanft, aber doch so entschlossen. Als wäre er sicher, dass er die Probleme lösen wird, die uns voneinander trennen.
Ich glaube ihm, wenn er sagt, dass es zwischen ihm und Anna aus ist. Und ich habe seinen Vater kennengelernt und kann verstehen, dass er vor ihm das perfekte Pärchen mit Anna spielen soll.
Aber was bedeutet das einen Freifahrtsschein für ihn und mich?
Tatsache ist, dass wir aus verschiedenen Welten kommen.
Tatsache ist, dass ich mich bei einem formellen Dinner so wohl fühlen würde wie ein Pinguin in Afrika. Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren. Beim Essen, bei der Konservation, bei allem.
Ich kenne mich weder im Geschehen der Politik noch in der Wirtschaft aus. Kulturveranstaltungen wie Theater- oder Museen-besuche sind nicht meine Welt. Ich kann beim Thema Kunst und Musik nicht mitreden.
Das alles macht mir eine Heidenangst.
Aber wie Alex schon sagte, ich bin nicht der Typ, der den Schwanz einzieht.
Wenn ich mit Alex zusammen bin, fühle ich mich sicher, selbstbewusst.
Und was ist schon so schwer daran, sich ein Kulturmagazin durchzulesen, damit man auf dem neusten Stand ist?
Immerhin habe ich es hinbekommen die französischen Begriffe auswendig zu lernen, damit ich die Speisekarte verstehe. Ich bin lernbereit. Selten habe ich solch eine Wissensbegier verspürt. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich daran denke, wie ich diesen versnobten Leuten zeige, dass eine Frau aus nicht privilegiertem Leben mit ihnen mithalten kann.
„Jessy, kannst du mir mal helfen?" Ich beuge mich zu Celina, ein süßes, neunjähriges Mädchen vor und erkläre ihr eine Rechenaufgabe. Mit gerunzelter Stirn betrachte ich den blauen Fleck an ihrem Unterarm, der letzte Woche noch nicht da war. Celina und ihr großer Bruder sind seit fast zwei Jahren bei uns, aber seit dem Sommer hat ihr Bruder Mark manchmal länger Schule und dann ist die kleine Celina mit ihren Eltern allein zu Hause.
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Herbststurm - Zurrenberg Romance
RomanceSie kämpft um das tägliche Überleben und hängt ihren Träumen nach. Er ist mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und buhlt um die Anerkennung seines Vaters. Jessica und Alexander führen ein Leben aus zwei verschiedene Welten und treffen durch Zuf...