Selina an den Lagerhallen zu finden ist schwieriger als beim letzten Mal. Nachdem ich am Samstag gearbeitet habe, gehe ich erst nach Hause, um unnötigen Ballast abzulegen und dann gehe ich los.
Im Kopf gehe ich noch einmal die Argumente durch, die ich mir zurechtgelegt habe. Irgendwie muss ich Selina dazu überreden mit mir mitzukommen. Wenn sie so weiter macht ist sie es bald, die tot in einer der Hallen liegt.
In den letzten Tagen habe ich die Sache mit den Drogen in den Zeitungen verfolgt. Ein Dealer hat ganz schlechtes Zeug auf den Markt gebracht. Dosiert man das Heroin falsch, ist man tot. Bisher wurden drei Frauen an den Lagerhallen gefunden, alle Prostituierte und drogenabhängig. Bei allen wurde die Überdosis diagnostiziert.
Ich hoffe, Carlos hat nichts damit zu tun. Soweit ich weiß dealt er mit Cannabis und Kokain, aber nicht mit Heroin.
Es ist schon dunkel, als ich meine Schwester endlich finde. In ihrem Mini-Rock und der Netzstrumpfhose ist sie viel zu dünn für die Jahreszeit angezogen.
„Jessyyy, mein Schwesterherz!" Torkelnd kommt sie auf mich zugelaufen und umarmt mich stürmisch.
Sie ist auf Droge, denn so würde sie mich nüchtern nie begrüßen.
Das macht die ganze Sache komplizierter.
Sie riecht nach Alkohol und Rauch. „Können wir uns unterhalten?" Sie nickt großzügig. „Na gut. Hier entlang!" Sie marschiert voran und als sie sich schwungvoll umdrehen will, verliert sie fast ihr Gleichgewicht. Sie bleibt mit zitternden Knien stehen, aber ihre Tasche fällt zu Boden. Es fallen Kondome, Zigaretten, ein Feuerzeug, eine kleine Tüte mit Gras – und eine Spritze mit weiterem Besteck heraus.
Ihr geht es viel schlimmer als noch vor fünf Wochen. Hektisch sammelt sie alles wieder ein.
Wie konnte sie nur so abstürzen?
„Also, was willst du? Ich habe dir gesagt, mir geht es gut."
„Gut geht es dir, wenn du ohne den Inhalt deiner Tasche zurechtkommst.", erwidere ich sauer. Sie kneift die Augen zusammen. So viel nimmt sie also noch wahr.
„Du bist hier, um mir Vorwürfe zu machen? Dann kannst du direkt wieder gehen."
„Ich will dir helfen, verdammt noch mal!", schreie ich sie an. „Und wie?" „Komm nach Hause. Ich weiß nicht, was zwischen Mama und dir vorgefallen ist, aber Streit kann man beiseite räumen." Wie aus dem nichts taucht Alexander vor meinen inneren Augen auf. Auf seine freundliche und charmante Art hat er es gepackt, dass wir vielleicht doch miteinander auskommen werden.
„Bitte, Selina. Ich will morgen nicht die Wohnungstür aufmachen und zwei Polizisten davorstehen sehen, die mich bitten eine Leiche zu identifizieren." Mir läuft eine Träne die Wange hinunter.
„Ich habe einen Job. Damit kann ich die Miete bezahlen und es bleibt sogar noch was übrig. Ich könnte dir einen Entzug..." „Hört du dir überhaupt zu? Das ist dein Leben, nicht meins!" Sie ist aufgebracht.
„Es ist mein Leben? Es könnte auch deins sein! Wenn du einen Entzug gemacht hast, kannst du dir einen Job suchen. Du kannst bei uns wohnen. Du kannst dein Leben wieder in den Griff kriegen, weil ich dich dabei unterstützen werde. Ich verspreche es dir. Im Jugendzentrum ist Kai, er wird dir auch helfen. Das ist nämlich sein Job."
In ihren Augen glänzt es verdächtig. Jetzt habe ich noch ein Ass im Ärmel. „Neulich habe ich mich für die Arbeit fertig gemacht und Mama saß in der Küche und hat geweint. Wir haben über meine Arbeit geredet und weißt du, was ich in ihren Augen gesehen habe? Sie war stolz auf mich. Und wenn du zurückkommst, Selina, dann verspreche ich dir, dass Mama auch stolz auf dich sein wird. Wenn du dich anstrengst und die Hilfe annimmst, die dir angeboten wird."
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Herbststurm - Zurrenberg Romance
RomanceSie kämpft um das tägliche Überleben und hängt ihren Träumen nach. Er ist mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und buhlt um die Anerkennung seines Vaters. Jessica und Alexander führen ein Leben aus zwei verschiedene Welten und treffen durch Zuf...