Prolog

6.3K 223 13
                                    

Mein Vater war gestorben, als ich drei Jahre alt war.
Es muss sicher schlimm für mich gewesen sein, dass meine wichtigste Bezugsperson nun auf einmal verschwunden war - und niemals wiederkehren würde.
Ich erinnerte mich kaum an meinen Vater. In meiner Nachttischschublade lagen zwar zwei Fotos von ihm, doch manchmal kam es mir vor, als wären es bloß Bilder eines Fremden.
Da meine Mutter mich und meinen Vater kurz nach meiner Geburt verlassen hatte, war ich also mit drei Jahren zu meiner alleinlebenden Tante, Leonora, gekommen. Leonora hatte immer gut - oder zumindest bestmöglich - für mich gesorgt. Aber sie hatte nie gerne mit mir über meine Eltern gesprochen. Meine Mutter hatte sie sowieso kaum mehr als ein Mal zu Gesicht bekommen und obwohl sie sagte, sie hätte sie nicht gekannt, schien Leonora sie zu hassen.
Nachdem ich einfach nicht mehr locker gelassen hatte, erzählte mir Leonora eines Abends von meinem Vater. John war ihr Halbbruder, den sie über alles geliebt und mit dem sie in ihrer Kindheit jede einzelne Minute verbracht hatte. Die beiden hatten wohl so einiges gemeinsam durchgestanden und waren immer füreinander da gewesen. Doch dann begann mein Vater sich immer mehr von Leonora zu entfernen und war letztendlich mit einer Frau, die er kaum kannte und die ihn ohnehin später verlassen hatte, durchgebrannt. Auf und davon. Hatte den Kontakt zu seiner Schwester und allen Bekannten verloren. Und war einige Jahre nach diesem plötzlichen Umbruch in seinem Leben bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Dort hatte man dann Leonora benachrichtigt, als seine einzige auffindbare Familienangehörige. Wenig später wurde in der Wohnung des Verstorbenen ein kleines, verschrecktes, dreijähriges Mädchen gefunden.
Irgendwie war es schockierend, dass ein Unfall, ein bloßer Verkehrsunfall, einer, wie sie jeden Tag passieren, einen Menschen ganz und gar von dieser Welt verschwinden lassen konnte. Es war beinahe, als wäre er nie da gewesen. Und doch quälte mich seit jeher das Verlangen, mehr über meine Eltern zu erfahren.
An diesem einen Abend hatte ich Leonoras Erzählungen gespannt gelauscht - unsicher, wie ich auf diese Geschichte, die so weit entfernt schien und mich doch so unmittelbar betraf, reagieren sollte. Leonora hatte den ganzen Abend geweint. Sie weinte häufig. Sei es wegen Männern, wegen einer Kündigung oder wegen etwas Belanglosem. Doch an diesem einen Abend hatte ich in ihren Augen eine Trauer gesehen, die viel tiefer ging als all das. Und so hatte ich auch gewusst, dass dies das letzte Gespräch sein würde, das wir über meinen Vater führen würden.

Schon seit ich denken konnte, war ich mit Leonora viel umgezogen. Auch wenn ich meine Tante liebte, war sie doch eine nicht gerade einfache Person. In unserem Wesen unterschieden wir uns so grundlegend, dass ich mich häufig fragte, ob wir wirklich miteinander verwandt waren.
Mir war es nie schwergefallen Freunde an einer neuen Schule zu finden. Doch irgendwann hatte ich es aufgegeben, tiefere Bindungen zu den neuen Leuten aufzubauen, da diese sich nach meinem Umzug meist nach und nach verloren.
Trotz allem war ich immer zufrieden gewesen mit meinem Leben - zumindest im Großen und Ganzen. Ich hätte es sicher schlechter erwischen können.
Natürlich wünschte ich mir manchmal, Leonora wäre etwas weniger kompliziert, oder, ich hätte eine beste Freundin, mit der ich über alles reden könnte. Ab und zu - allerdings immer seltener - wünschte ich mir sogar, ich wüsste, wie es sich anfühlte, sein ganzes Leben in ein und derselbe Stadt zu verbringen. Oder jemanden "mom" und "dad" nennen zu können.
Schon als ich jünger war, hatte ich oftmals das Gefühl, ich wäre anders. Damals hatte ich noch nicht annähernd geahnt, wie anders ich war...
Es war kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, als meine Kräfte zum ersten Mal auftraten. Im Nachhinein hatte ich mir jedoch einzureden versucht, ich hätte den Wasserstrahl der Dusche nicht durch meinen bloßen Willen bewegt, sondern der Duschkopf hätte bloß einen Defekt gehabt.
Als ich jedoch nach einem heftigen Streit mit Leonora einen Sturm heraufbeschwor - und das mitten in unserer Küche - konnte ich nicht länger leugnen, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Besonders beunruhigend war jedoch das Verhalten meiner Tante, die daraufhin wenig überrascht, eher etwas betrübt wirkte und etwas von meinem Vater vor sich hin murmelnd die Wohnung verließ.
Doch erst am folgenden Abend veränderte sich mein Leben vollkommen.

Academy of Salem Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt