Harry und Sofía zeigten mir noch das Trainingsgelände und die Aula, die mit ihrer Tribüne und den hohen Rängen an ein altes Amphitheater erinnerte. Anschließend kehrten wir zurück in die Eingangshalle und setzten uns an einen der Tische, an den uns Harry etwas zu essen brachte.
"Was meintest du eigentlich damit, dass ich hier etwas über meine Familie herausfinden könnte?", fragte ich Sofía mit vollem Mund.
Sie kaute auf, ehe sie antwortete:
"Ich weiß nicht viel über deine Familie, außer, dass dein Vater ein gewisser John Blackwell gewesen sein soll und dass du deine beiden Eltern in jungen Jahren verloren hast. Aber ich könnte dir helfen, etwas über die beiden herauszufinden. Oder zumindest über ihn."
"John Blackwell?", hakte Harry nach und legte sein Brötchen nachdenklich zurück auf den Teller.
"Kanntest du ihn?", fragte ich erwartungsvoll.
"Nein, nicht direkt. Aber seinen Namen habe ich auf jeden Fall schon einmal gehört.", erklärte er. "Es lässt sich bestimmt im Schularchiv etwas über ihn finden."
Gedankenverloren betrachtete er mich.
"Was weißt du über deine Mutter?"
Ich zuckte die Achseln.
"Nicht viel. Sie hat meinen Vater wohl kurz nach meiner Geburt verlassen und meine Tante konnte sie anscheinend nicht ausstehen.", erzählte ich. "Ich weiß nicht, ob das Ganze hier überhaupt mit ihr zusammenhängt..."
"Oh, das glaube ich schon.", erwiderte Sofía.
Verwirrt sah ich sie an.
"Elementarkräfte können nur einzeln weitergegeben werden. Da du über zwei Elemente verfügst, muss das eine von deinem Vater und das andere von deiner Mutter stammen."
Ich stutzte. "Das heißt... sie kam wahrscheinlich auch aus der Unterwelt oder ist hier zumindest zur Schule gegangen"
Sofía nickte und nahm einen Schluck von ihrem Orangensaft.
"Aber meine Tante hat ganz sicher keine Kräfte", warf ich ein. "Wie kann es da sein, dass mein Vater...?"
"Entweder deine Tante hat einfach keine Kräfte, so wie einige Unterweltler ja auch", mutmaßte Sofía mit einem Blick zu Harry. "Oder dein Vater war vielleicht adoptiert. Weißt du etwas über deine Großeltern?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Aber ich weiß, dass mein Vater und meine Tante tatsächlich nicht die selbe Mutter hatten."
"Das würde es auf jeden Fall erklären.", murmelte Harry. "Wenn ich herausbekomme, wo ich den Namen deines Vaters schon einmal gehört habe, werde ich es dir sofort mitteilen", versicherte er mir dann und stand auf, um die leeren Teller wegzuräumen.
"Und? Was denkst du?", fragte Sofía nach einer Weile.
"Ich weiß nicht so genau", gab ich ehrlich zu. "Das ist alles ein bisschen überfordern. Aber ich würde gerne mehr darüber herausfinden... Auch wenn ich nicht weiß, ob ich wirklich hier zur Schule gehen will, oder kann."
Ich seufzte bei dem Gedanken daran, wie aufgebracht meine Tante wäre, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich ausziehen und in der Unterwelt leben wollte.
Garantiert würde sie mir das nicht erlauben. Geschweige denn mir verzeihen, dass ich sie im Stich ließ.
"Nimm dir ruhig Zeit, darüber nachzudenken", holte mich Sofías Stimme aus meinen Gedanken. "Das ist eine große Entscheidung, die du da treffen musst."
Als Harry wiederkam, warf auch er mir einen besorgten Blick zu. "Warum guckst du denn so deprimiert?"
"Ich weiß nicht", murmelte ich. "Wahrscheinlich habe ich einfach gehofft, hier Antworten zu finden - auch Antworten darauf, was ich jetzt tun soll. Aber stattdessen habe ich das Gefühl, dass es immer mehr ungeklärte Fragen werden."
Harry lächelte mitfühlend und legte mir eine Hand auf die Schulter.
"Du wirst ganz sicher auf alles eine Antwort finden. Du musst nur etwas Geduld haben. Auch wenn das manchmal schwer ist, ich weiß."
Ich nickte, dankbar für seine verständnisvollen Worte.
Sofía räusperte sich leise.
"Wir sollten zurück in die Oberwelt."
Harry hielt uns grinsend die Tür auf.
"Na dann, kommt gut an. Und stellt keinen Unsinn in der Oberwelt an", fügte er mit einem Zwinkern hinzu. Dann wandte er sich noch einmal an mich.
"Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Aline"
"Das hoffe ich auch", antwortete ich lächelnd und war selbst überrascht, dass ich es auch so meinte.Die Fahrt zurück nach Detroit verbrachten wir schweigend. Es war zwar schon spät, als ich nach Hause kam, doch da das Auto meiner Tante nicht in der Ausfahrt stand, brauchte ich mir keine Gedanken zu machen.
Nachdem ich mich von Sofía verabschiedet hatte und wir unsere Handynummern ausgetauscht hatten, betrat ich erschöpft von dem langen Tag die Wohnung. Wie erwartet fand ich sie leer vor. Allerdings hatte Leonora den Flur in einem ziemlichen Chaos zurückgelassen, was darauf schließen ließ, dass sie mal wieder ganz schön in Eile gewesen war.
Da ich zu müde zum Aufräumen war, ließ ich erst mal alles so liegen wie es war, zog mir Schlafsachen über und suchte ein Ladekabel für mein Handy.
Als ich dabei meine Nachttischschublade durchwühlte, fiel mein Blick auf die Fotos von meinem Vater. Das eine zeigte ihn glücklich lächelnd mit mir als Baby auf dem Arm. Das andere schien bereits ein bisschen älter zu sein. Er hatte darauf noch etwas längere Haare, keinen Bart und trug eine grüne Sweatjacke.
Ich betrachtete die Jacke etwas näher und plötzlich fiel mir auf, dass ich das Symbol, welches darauf gedruckt war, heute schon einmal gesehen hatte.
Es war die Waagschale, die als Symbol der Eunomia diente.
Da ich mir unsicher war, ob es sich hierbei vielleicht nur um einen Zufall handelte, machte ich ein Foto davon und sendete es Sofía.
Noch bevor ich überprüfen konnte, ob sie geantwortet hatte, schlief ich auch schon ein.
Am nächsten Morgen wachte ich davon auf, dass es in der Küche schepperte und jemand laut fluchte.
Nachdem ich mir eine Jacke und ein paar graue Flauschsocken übergezogen hatte, schlurfte ich in die Küche.
"Morgen", murmelte ich, wobei es eher ein Gähnen als ein Murmeln war.
"Morgen, Aline", erwiderte Leonora etwas angespannt, während sie hektisch die Scherben auf dem Küchenboden zusammenfegte.
"So ein Mist, das war eins der guten Gläser!"
Ich kniete mich neben sie und nahm ihr den Feger ab.
"Schon gut. Ich mach das schon"
Leonora schenkte mir ein dankbares Lächeln und lief ins Bad, um sich für die Arbeit fertig zu machen.
Als ich mit dem Zusammenkehren der Scherben fertig war, machte ich mir erst einmal einen Kaffee zum Wachwerden.
"Tut mir leid, dass ich dich durch den Lärm geweckt habe", entschuldigte sich Leonora und setzte sich zu mir an den Küchentisch.
"Kein Problem", entgegnete ich. "Mein Wecker hätte sowieso demnächst geklingelt."
Nach ein paar Minuten Stille fragte ich: "Wie geht es dir? Ist alles okay?"
Sie lächelte und wich meinem Blick aus. "Alles bestens. Mein neuer Job ist eigentlich ganz gut."
Ich biss mir etwas unsicher auf die Lippe.
"Okay... und was ist mit mir? Du gehst mir aus dem Weg, das merke ich doch. Aber ich hab dir doch nichts getan! Und wenn es wegen dieser Sache ist..."
Leonora schüttelte den Kopf.
"Nein, nein. Du hast nichts falsch gemacht, Aline. Es ist nur..."
Ihre Stimme zitterte und ich hoffte, dass sie nicht gleich weinen würde.
"So hat es bei John auch angefangen", hauchte sie leise.
"Was?", fragte ich perplex.
"Du wusstest also davon? Also, dass er auch... solche Kräfte hatte?"
Leonora nickte langsam.
"Ja. Ich habe es irgendwann mitbekommen und anfangs hat er mir auch noch alles darüber erzählt. Aber dann ist dein Vater auf diese Akademie gegangen und..."
Sie schluchzte.
"Naja, das hat ihn eben vollkommen verändert"
Mitleidig tätschelte ich ihren Arm.
"Tut mir leid, Leonora. Ich wollte nicht, dass das Ganze wieder bei dir hochkommt", versicherte ich ihr.
Sie nickte bloß und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab.
"Ich ähm, sollte nicht zu spät zur Arbeit kommen", sagte sie schnell, ehe sie den Raum verließ.
Ich wusste, dass es sinnlos war, ihr zu folgen oder mit ihr reden zu wollen. Also checkte ich stattdessen mein Handy. Tatsächlich hatte mir Sofía bereits geantwortet.
Ich hatte Recht gehabt, mit meiner Vermutung, dass mein Vater ein Eunomia gewesen war. Doch meine Freude darüber schwang sofort in Schuldgefühle um, denn, wenn ich wirklich auf die Akademie gehen würde, würde ich meiner Tante genau das Gleiche antun wie mein Vater.
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Academy of Salem
FantasyAls Aline an der mysteriösen Akademie angenommen wird, verändert das ihr Leben vollkommen. Sie entdeckt eine neue Welt voller Magie und düsterer Geheimnisse. Und dann ist da noch dieser Junge, den sie eigentlich nicht mögen sollte, der ihr aber einf...