54. Kapitel

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Am folgenden Tag warf mir Professor Morgan während des Unterrichts immer wieder besorgte Blicke zu, doch ich ignorierte sie gekonnt und bemühte mich, ihr möglichst aus dem Weg zu gehen.
Ich hatte noch nicht entschieden, was ich wegen dem, was sie als 'Zwischenfall' betitelt hatte, tun würde.
Jedenfalls würde ich es nicht einfach so hinnehmen, dass ich mit einer kaltblütigen Mörderin verwandt war...!
Als Jones nach dem Geschichtsunterricht zu mir kam, um mir deutlich zu machen, wie sehr ich in seinen Augen bei dem Wettkampf versagt hatte, verbesserte das meine Laune auch nicht besonders.
"Mitgefühl hat nichts auf dem Schlachtfeld zu suchen", fügte er einen seiner ach-so-schlauen Sprüche hinzu.
"Sie haben doch bloß Angst, dass ich Sie vor der wundervollen Herrscherin Salems blamiert habe", feixte ich und ließ dabei meine Verachtung für Aymara Firestone deutlich herausklingen.
Seit Shadow mir erzählt hatte, was die Herrscherin und ihre Untergebenen seinen Eltern und den anderen Aufständischen angetan hatten, war jegliche Sympathie - falls ich diese jemals gehabt hatte - für die obere Schicht Salems verschwunden.
"Wie bitte?!", zischte Professor Jones bedrohlich leise.
"Sie haben mich schon verstanden", entgegnete ich und wollte gerade den Klassenraum verlassen, als Jones mich aufhielt.
"Ich haben von deiner kleinen Eskapade gehört", merkte er höhnisch an und fixierte mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen, unter denen sich dunkle Ringe abzeichneten. "Da du beim Wettkampf als disqualifiziert giltst, solltest du von nun an aufpassen, welche Fehltritte du dir noch erlaubst.
Selbst Professor Morgan wird dich nicht vor einem Rausschmiss bewahren können, wenn du nicht langsam lernst, deine Zunge zu zügeln.
Und jetzt geh mir aus den Augen, Aline Blackwell."
Nachdem er seine Drohung ausgesprochen hatte, kehrte er mir den Rücken zu und widmete sich seinen Aufzeichnungen für den Geschichtsunterricht.
Ich wollte am liebsten etwas erwidern, doch im letzten Moment konnte ich den spöttischen Kommentar noch herunterschlucken und zwang mich, den Klassenraum schweigend zu verlassen.
Damien bekam ich den ganzen Tag über nicht zu sehen, da er zur Beobachtung in der Krankenstation verbleiben musste, falls irgendwelche Nachwirkungen seiner Atemnot auftreten würden.
Doch auch ohne seine hasserfüllten Blicke oder provozierenden Sprüche fühlte ich mich verdammt schlecht wegen meiner gestrigen Aktion.
Hinzu kamen noch die teilweise abfälligen, teilweise eingeschüchterten Blicke der anderen Schüler, die davon Wind bekommen hatten - und die besorgten Blicke meiner Freunde.
Der Einzige, der mich behandelte wie immer, war Shadow.
"Na, hast du das Elementartraining heute geschwänzt, weil du wusstest, dass du keine Chance gegen mich hast?", begrüße er mich mit einem schelmischen Grinsen, als er den Trainingsraum betrat.
"Du vergisst: Ich bin dir haushoch überlegen", entgegnete ich großspurig.
"Ach, stimmt ja", murmelte Shadow sarkastisch. "Deswegen hast du mich beim Wettkampf ja locker besiegt"
Ich schnaubte gespielt beleidigt.
"Ich hätte dich besiegen können... aber ich wollte nicht"
Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.
"Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wirklich heiß aussiehst, wenn du dich so arrogant gibst?"
Ich verdrehte grinsend die Augen - ein Effekt, den Shadow ziemlich häufig bei mir hervorrief.
"Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön unverschämt bist?"
Er zuckte die Schultern. "Das höre ich ständig."
Dann beugte er sich zu mir herüber, zog mich an der näher Hüfte zu sich heran und begann mich langsam zu küssen.
Der Kuss wurde schnell stürmischer und leidenschaftlicher, und als wir uns wieder von einander lösten, waren wir beide ziemlich außer Atem.
"Ich muss dir etwas sagen, auch wenn ich das eigentlich für mich behalten sollte", sagte Shadow auf einmal leise.
"Was?", fragte ich misstrauisch und zog die Augenbrauen zusammen.
"Jones und Professor Morgan wollen morgen früh vor dem Frühstück einen Angriff auf die Nymphen starten. Und sie haben ein paar Schüler, die bei dem Kampf auf dem Gelände der Akademie dabei waren, gebeten, mit ihnen zu kommen."
Entrüstet verschränkte ich die Arme.
"Wieso wurde ich nicht gefragte?"
"Ich schätze mal, Professor Morgan wollte dich nicht mit noch etwas belasten", mutmaßte Shadow.
"Aber ich finde, wenn du dabei sein willst, solltest du mitkommen. Wir können schließlich alle Kräfte brauchen. Denn anscheinend sind es noch mehr Nymphen geworden - wo auch immer die alle plötzlich herkommen..."
Auf Shadows Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte.
"Aber wieso greifen wir an?", fragte ich verwundert. "Die Nymphen haben uns doch jetzt mehrere Wochen in Frieden gelassen. Vielleicht haben sie kein Interesse mehr daran, Unruhe zu stiften...?"
Shadow schüttelte den Kopf.
"Das Risiko ist zu hoch. Diese Biester sind unberechenbar und vor allem streitsüchtig."
Ich nickte und dachte an die vielen Zähne und die scharfen Krallen der Nymphen und an die unmenschlichen Schreie, die sie bei ihrem Angriff ausgestoßen hatten.

Tatsächlich waren Jones und Professor Morgan nicht sehr erfreut darüber, dass ich von ihrem Plan Wind bekommen hatte und nun ebenfalls mitkommen wollte.
"Na, dann kommt sie eben mit", murrte Jones schulterzuckend. "Ich werde aber nicht für die Sicherheit deiner Tochter sorgen"
"Das musst du auch nicht!", entgegnete Professor Morgan verärgert. "Weil sie nicht mitkommen wird."
Ich schüttelte den Kopf.
"Sie werden mich auf keinen Fall davon abhalten, mitzukommen"
Entschieden lief ich an ihr vorbei und schnappte mir einen der Rucksäcke, die wie bei unserem ersten Ausflug zu den Sümpfen mit Waffen und Tarnkleidung gefüllt waren.
"Langsam verstehe ich, von wem sie diese unerträgliche Eigensinnigkeit hat", hörte ich Jones verächtlich an Professor Morgan gewandt anmerken.
"Du wirst gleich die Eigensinnigkeit der Nymphen zu spüren bekommen - und ich werde dir garantiert nicht zu Hilfe eilen, wenn du dich weiterhin wie ein genervter Teenager aufführst, William", erwiderte diese scharf.
Das hatte anscheinend gesessen, denn Jones verzichtete auf eine weiteren bissigen Antwort.
Argon versuchte mich diesmal nicht aufzuhalten, sein Blick zeigte mir jedoch nur allzu deutlich, dass er es nicht guthieß, dass ich mit zu den Nymphen gehen würde.
Als wir allmählich die Sumpfgebiete erreichten, in denen die Nymphen lebten, spürte ich, wie das Adrenalin durch meine Adern schoss.
Mein ganzer Körper war angespannt und meine Augen wanderten aufmerksam zwischen den Bäumen hin und her. Jones führte die Gruppe an, während Professor Morgan und Harry - der trotz wiederholter Einwände von Professor Morgan darauf bestanden hatte, mitzukommen - das Schlusslicht bildeten.
Nachdem wir im Schatten der Bäume zum Stehen gekommen waren, überreichte Professor Morgan uns Schülern verschiedene Schusswaffen, die das Gift, welches sie am vorigen Wochenende bei Tamani abgeholt hatte, in Richtung der Nymphen befördern sollten.
Der Plan war, dass die drei Lehrer die Nymphen aus ihren Verstecken locken und ablenken sollten, sodass wir mit dem Gift nahe genug an sie herankamen und es seine volle Wirkung entfaltete.
Für einen Moment fragte ich mich, ob wir hier nicht gerade einen Massenmord ausführten und was meine Tante wohl dazu sagen würde... Andererseits hatten die Nymphen ihre skrupellose Feindseligkeit deutlich bewiesen.
Ich versuchte meine Moralvorstellungen für einen Moment auszublenden und konzentrierte mich darauf, die Giftampullen korrekt in die Trommel meines Revolvers zu laden.
Shadow spannte neben mir seinen Bogen, den ich ihn schon häufiger im Trainingsraum hatte benutzen sehen. Die Pfeile hatte er sich in einem ledernen Köcher auf den Rücken geschnallt, sodass er diese mit einer geübten Bewegung an den Bogen anlegen konnte. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegung und auch die Leichtigkeit mit der er ein Ziel mit seinen Pfeilen traf, faszinierte mich - besonders, weil ich wahrscheinlich sogar auf zwei Meter Entfernung mein Ziel mit Pfeil und Bogen verfehlen würde.
"Wo hast du das eigentlich gelernt?", flüsterte ich Shadow zu und deutete auf den Bogen.
Er schmunzelte. "Von meinem Dad. Und später habe ich dann mit der Dorfältesten trainiert. Sie ist wirklich die taffste ältere Frau, die ich kenne!"
In seiner Stimme schwang Bewunderung mit und auch eine Zuneigung, die bewies, dass er, obwohl er seine Eltern bereits mit elf Jahren verloren hatte, ein Zuhause besaß, zu dem er immer zurückkehren würde.
Ich hatte niemals ein solches Zuhause gekannt. Natürlich war Leonora immer für mich da gewesen und sie war meine Familie. Trotzdem kannte ich das Gefühl von einem Ort, der einem vollkommene Geborgenheit gab, nicht wirklich.
Wieder einmal fragte ich mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich mit meinen Eltern in der Unterwelt in einem beständigen Zuhause aufgewachsen wäre.
Verstohlen beobachtete ich Professor Morgan dabei, wie sie sich zwei lange, giftgetränkte Schwerter auf den Rücken schnallte. Jones und sie nickten sich zu und für einen kurzen Moment sah ich eine Verbundenheit zwischen den beiden, die mir bisher noch nie bei ihnen aufgefallen war.
Harry warf Professor Morgan ebenfalls einen letzten Blick zu und drückte ihre Hand, ehe die beiden gemeinsam aus dem Schutz des Waldes auf die Lichtung traten.
Jones folgte ihnen und bewegte sich dabei wie eine Raubkatze, die sich leise an ihr Opfer anpirschte.
Einige Sekunden nahm ich bloß die Stille um uns herum und das rauschende Blut in meinen Ohren wahr.
Dann sprangen mindestens vier Dutzend Nymphen mit lauten, animalischen Kampfschreien aus ihren Verstecken hervor.
Sie hatten gewusst, dass wir kommen würden.
Und sie schienen keine Angst zu haben, uns unterlegen zu sein.
Ganz im Gegenteil.

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