60. Kapitel

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"Bleib bei mir, Minerva!", flehte ich.
Meine Stimme hallte im Wald leise wieder.
Rasend vor Wut richtete ich meinen Blick auf Lillian und die Nymphen, die sich wie eine schützende Wand vor ihr aufgebaut hatten.
Ich stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ein Geräusch, von dem ich nicht gewusst hatte, das ich es verursachen konnte.
Es war als würde ich meinen Schrei gerade zu sehen. Als wäre er pure Magie, die aus mir heraus auf die Nymphen zu strömte.
Sie sackten allesamt zu Boden und blieben reglos liegen. Nur Lillian hastete in den Schutz des Waldes davon.
"Du musst wach bleiben", rief ich wieder, als Minervas Augen langsam zufielen.
Ich hievte sie hoch und stolperte mit ihr in den Armen auf die gigantische Holztür zu. Als ich im Krankenflügel ankam und Minerva erschöpft auf eines der Betten fallen ließ, konnte ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich hierhin gelangt war.
Die Krankenschwester sah mich überrascht an und dann zu Minerva.
"Tun Sie etwas!", herrschte ich sie aufgebracht an, doch sie schüttelte nur langsam den Kopf.
Die Sekunden verrannen und ich starrte sie bloß entgeistert an - bis ich endlich verstand.
Sie war Lillians Schwester.
Sie war die Heilerin, die sie zurück ins Leben gebracht hatte.
Ich sah mich nach einem schweren Gegenstand um, entdeckte jedoch nur ein Notfall-Set in einem kleinen grauen Koffer.
Das musste reichen...!
Ich riss den Koffer an mich, holte aus und zog Lillians Schwester mit voller Wucht eins über dem Schädel, was sie erst einmal außer Gefecht setzte.
Anscheinend hatte mein Tumult einige Schüler aus den Unterrichtsräumen gelockt, denn nun sammelte sich eine Menschentraube vor der Tür der Krankenstation und beäugte erschrocken die Szenerie, die sich hier bot.
Endlich ertönte Harrys tiefe Stimme und er bahnte sich einen Weg durch die Schüleransammlung. Professor Rutherford tauchte ebenfalls auf und scheuchte die Schüler davon.
"Was ist passiert?", fragte Harry atemlos, als sein Blick auf die bewusstlose Minerva fiel.
"Ich... sie..."
Ein Schluchzen entfuhr mir.
Harry legte mir eine Hand auf die Schulter.
"Beruhige dich, Aline. Und sag mir, was los ist."
Ich nickte und versuchte, mich zu beruhigen.
"Die Nymphen sind wieder aufgetaucht. Und Lillian. Und sie hat... Professor Morgan angegriffen. Also eigentlich hat sie mich angegriffen. Aber...", sprudelte es aus mir hervor.
Dann hielt ich inne, weil ich nicht sicher war, was Harry über Lillian und das Geheimnis meiner Mutter wusste.
Doch ich sah ihm an, dass er verstand, wovon ich sprach.
Es schienen ihm zwar einige Fragen auf der Zunge zu brennen und sein irritierter Blick zu der Krankenschwester verriert mir, dass er diese dringend stellen wollte.
Doch es schien ihm nur wichtig zu sein, Minerva zu retten.
Er beugte sich über sie, riss den Stoff der Bluse auf und tastete die Wunde ab, aus der immer mehr Blut sickerte.
Seine erfahrenen Hände durchsuchten den Erste-Hilfe-Koffer und ich stellte erleichtert fest, dass er anscheinend genau wusste, was er da tat.
Mein durch die Tränen verschleierter Blick verhinderte allerdings, dass ich Genaueres erkannte.

Nervös lief ich auf dem Gang des Krankenhauses auf und ab.
Er war in fröhlichen Grün- und Blautönen gestrichen, die mir in dieser Situation gänzlich unpassend erschienen. An den Wänden hingen ein paar Bildschirme, auf denen kurze Videos zu sehen waren, doch meine Aufmerksamkeit war starr auf die Tür des OP-Saals gerichtet.
"Es wird alles gut werden", beruhigte mich Harry, der auf einem der Sessel gegenüber von der Tür saß.
Ich betete, dass er Recht hatte.
Professor Rutherford hatte die Blutung mit ihren Kräften stoppen können, aber da wir keinen fähigen Heiler an der Akademie besaßen - außer Lillians Schwester, die Jones kurzer Hand in sein Büro eingesperrt hatte, um sie unschädlich zu machen - hatten wir sie in die Innenstadt von Salem bringen müssen.
Erstaunlicherweise hatten weder Professor Rutherford noch Jones irgendwelche Fragen gestellt.
Scheinbar vertraute selbst Professor Jones Minerva trotz aller Differenzen nahezu blind.
Ich seufzte.
"Ich gehe mir etwas zu trinken holen", erklärte ich und wandte mich Richtung Cafeteria. "Möchtest du auch was?"
"Ein Kaffee kann sicherlich nicht schaden", erwiderte Harry. "Danke."
Auch wenn Harry sich so locker wie immer gab, konnte ich ihm die Anspannung ansehen. Minerva war ihm unglaublich wichtig.
Auf dem Weg zur Cafeteria grübelte ich weiter darüber nach, wie es sein konnte, dass die Nymphen mir im Wald aufgelauert hatten, und dass sie Lillian zu gehorchen schienen.
Hatte ihre Schwester auch diese Kreaturen wiederbelebt?
Mit zittrigen Fingern öffnete ich meine Cola und trank ein paar Schlucke, da sich die Erschöpfung nun langsam in mir breit machte. Dann lief ich zurück zu Harry, um ihm den versprochenen Kaffee zu bringen.
Harry kam mir auf halber Strecke entgegen und wirkte aufgeregt.
"Sie hat es überstanden", rief er erleichtert und auch von mir fiel etwas von der Anspannung ab. "Wir dürfen jetzt zu ihr."
Ich hastete hinter Harry her, froh, dass meine Mutter wohl auf war.
"Mein Gott, dir geht es gut!", stieß Harry aus und ließ sich auf der Kante des Krankenhausbetts nieder.
Minerva kniff verwirrt die Augen zusammen.
"Kennen wir uns?", fragte sie verwundert.
Harry sah sie schockiert an, dann schnaubte er verärgert.
"Das ist nicht witzig, Minerva!"
Sie lachte leise - allerdings klang es mehr nach einem Husten.
"Stell dich nicht so an, Harry", erwiderte sie gelassen. Dann wandte sie sich lächelnd an mich.
"Ich habe es mir also verdient?"
Verständnislos zog ich die Augenbrauen zusammen.
"Du hast mich 'Minerva' genannt", erklärte sie schmunzelnd.
Ich verdrehte grinsend die Augen.
Dann wurde ich wieder ernst.
"Was ist mit Lillians Schwester? Meinst du, sie war das auch mit den Nymphen?", stellte ich die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte. "Und was passiert jetzt mit ihr?"
Minerva zog besorgt die Stirn in Falten.
"Viel wichtiger ist, dass wir Lillian finden und verhindern, dass sie noch jemandem Schaden zufügt"
Harry blickte etwas irritiert drein, weswegen Minerva und ich ihn endlich aufklärten.
Als wir geendet hatten, schien Harry ziemlich überfordert mit den Neuigkeiten zu sein, nickte jedoch.
"Ich denke, sie ist auch für das mit den Nymphen verantwortlich", erklärte Minerva an mich gewandt. "Sollten wir das beweisen können, erwartet Lillians Schwester ein ziemlich harter Prozess."
Harry runzelte die Stirn.
"Und was ist mit Lillian? Es kann doch nicht einfach so funktionieren, jemanden dauerhaft wieder ins Leben zurück zu holen? Ist sie nicht immer wieder auf die Kräfte ihrer Schwester angewiesen?"
"Wenn das stimmt, müssten wir uns keine allzu großen Sorgen wegen ihr machen", schlussfolgerte ich.
"Wenn das stimmt", wandte Minerva ein. Ihre Lider flatterten und ich sah, wie unglaublich erschöpft sie noch immer war.
"Ruh dich erst mal aus", sagte ich und wandte mich zum Gehen.
"Bis dann", murmelte auch Harry und küsste Minerva sanft auf die Schläfe, bevor auch er das Zimmer verließ.

Zwei Tage später wurde Minerva endgültig aus dem Krankenhaus entlassen und kehrte zur Akademie zurück.
Die anderen Lehrer löcherten sie mit Fragen, doch sie bewahrte Schweigen über die Dinge, die im Wald geschehen waren.
Sie erklärte nur, sie wüsste jetzt, weshalb die Nymphen wieder zurück gekommen seien und wer dafür verantwortlich sei. Noch am selben Nachmittag kam Aymara Firestone höchst persönlich zu uns - umgeben von ihrer persönlichen Leibgarde - und holte Lillians Schwester ab, um sie vor Gericht zu verhören.
Harry hatte dafür gesorgt, dass die Leichen der Nymphen verbrannt worden waren und der Wald nach möglichen weiteren von ihnen und nach Lillian abgesucht wurde.
Doch es schien nirgends einen Hinweis auf ihren Verbleib zu geben.
Als ich mich nach Heilkunde auf den Weg in den Gemeinschaftsraum machte, wo ich mich mit Eve treffen wollte - da Magische Talente für uns ausfiel, weil Minerva noch nicht fit genug zum Unterrichten war - hörte ich Harry und meine Mutter lautstark diskutieren.
Ich wollte mich in ihren Streit nicht einmischen, doch als ich hörte, was Minerva vorhatte, platzte ich ungefragt in ihr Büro.
"Du willst dich stellen?! Jetzt?!", fragte ich und sah sie entgeistert an. "Du hättest Jahre Zeit gehabt, um die Wahrheit zu sagen!"
Sie sah mich etwas perplex an und wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als Harry ihr das Wort abschnitt.
"Siehst du! Aline ist auch meiner Meinung. Was bringt es schon, wenn du dich jetzt für deine Taten verantwortest? Du hast doch gesehen, wozu Lillian im Stande war. Wärst du ihr damals nicht überlegen gewesen, wärst du womöglich jetzt die, die nicht mehr unter uns weilen würde...!"
Ich nickte zustimmend.
"Es ändert doch nichts an dem, was passiert ist, wenn du gestehst, was du getan hast", fügte ich hinzu. "Und wenn schon bei uns in der Oberwelt eine so hohe Strafe auf Mord aussteht, ist es hier wahrscheinlich noch schlimmer oder?" Meine Stimme wurde leiser.
"Ich will meine Mutter nicht schon wieder verlieren..."
Minerva seufzte unschlüssig.
"Aber es wäre das einzig Richtige... Und du warst doch auch der Meinung, dass es falsch war, es damals zu verschweigen", wandte sie sich an mich.
Ich schüttelte den Kopf.
"Aber jetzt nicht mehr! Es kann doch nicht richtig sein, eine Strafe in Kauf zu nehmen für eine Person, die versucht hat, dich und deine Familie zu ermorden...!"
Ihre Miene verfinsterte sich und ich nahm an, dass sie an meinen Vater dachte.
"Hör auf deine Tochter", bekräftigte Harry und legte Minerva von hinten die Hände auf die Schultern.
Zögerlich nickte sie - auch wenn sie nicht vollends überzeugt wirkte.
Dann runzelte sie verwundert die Stirn.
"Solltest du nicht eigentlich jetzt Kampftraining für die Schüler im vierten Jahr unterrichten?", fragte sie Harry in leicht vorwurfsvollem Ton.
Dieser blickte überrascht auf die Uhr.
"Oh, es ist ja schon so spät!", rief er und wandte sich eilig zum Gehen.
Minerva und ich wechselten einen amüsierten Blick.
"Wenn er mich nicht hätte...!", murmelte sie leise und konnte dabei ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken.

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