23. Kapitel

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Es fiel mir nicht leicht, der Frau zu vertrauen, von der ich mein Leben lang gedacht hatte, dass sie mich einfach grundlos verlassen hatte. Aber ich wusste, dass es unfair von mir wäre, sie für etwas zu verurteilen, was sie vor fast sechzehn Jahren getan hatte.
"Ich glaube Ihnen", sagte ich leise und brach somit das Schweigen.
Ein schmales Lächeln erschien auf ihren Lippen.
"Danke"
"Wollten Sie mir nicht etwas zeigen?", versuchte ich das Thema zu wechseln.
Sie nickte. "Ja, stimmt. Wir sind gleich da", erklärte sie und deutete auf eine Stelle vor uns, an der sich die Bäume etwas lichteten.
Dort befand sich ein gigantischer Wasserfall, der in einem großen See mündete. Das klare Wasser glitzerte in der Sonne und kurz spielte ich mit dem Gedanken, einfach hineinzuspringen und ein paar Züge zu schwimmen.
Das Schwimmen war für mich schon immer der beste Ausgleich zum Stress in meinem Alltag gewesen.
Wenn ich im Wasser war, fühlte ich mich auf eine Art geborgen, die sich nicht in Worte fassen ließ.
Ich trat etwas näher an den See heran und betrachtete die bunten Fische, die darin schwammen, als plötzlich der Kopf eines kobaltblauen Pferdes aus dem Wasser auftauchte.
Die Mähne des Pferdes bestand aus violettem Seetang und mir fiel auf, dass es statt dem Hinterteil eines normalen Pferdes einen in verschiedenen Violetttönen schillernden Fischschwanz hatte.
"Das ist ein Kelpie", erklärte Professor Morgan. "Ich habe ihn Poseidon getauft."
Ich grinste und näherte mich vorsichtig dem Kelpie.
"Hi Poseidon"
Das Kelpie blähte seine Nüstern auf und streckte mir seinen Kopf entgegen.
Etwas verunsichert blickte ich zu Professor Morgan.
"Schon okay", sagte sie. "Er wird dir nichts tun. Er spürt, dass du über Wasser-Kräfte verfügst. Außerdem sind die meisten Kelpie harmlos, wenn man sie nicht gerade stört oder verärgert."
Poseidon begann an mir zu schnuppern, während ich ihm etwas unbeholfen den Kopf tätschelte.
"Poseidon lebt hier schon seit einigen Jahren. Allerdings konnte er mich anfangs überhaupt nicht ausstehen", erzählte Professor Morgan schmunzelnd. "Er hat mehrmals versucht, mich zu ertränken"
Ungläubig betrachtete ich das blaue Wasser-Pferd, das eigentlich überhaupt nicht angriffslustig aussah.
"Ich hatte ja damals den Verdacht, dass Poseidon in John verliebt war. Vielleicht konnte er mich deswegen nicht ausstehen."
Professor Morgan streckte grinsend ihre Hand nach Poseidon aus und kraulte ihn zwischen den Ohren, woraufhin dieser ein genießerisches Schnauben ausstieß.
"Aber mittlerweile willst du mich nicht mehr ertränken, oder Poseidon?", fragte sie belustigt.
Dann wandte sie sich wieder an mich. "Wenn er dich mag, lässt er dich vielleicht sogar auf sich reiten."
Und tatsächlich schien er mich zu mögen. Denn einige Minuten später saß ich auf Poseidons Rücken, während dieser blitzschnell durchs Wasser zischte.

Wir kamen einige Minuten zu spät zum Elementartraining, was Professor Morgan einen tadelnden Blick von ihrer Kollegin einbrachte.
"Auch mal da", begrüßte mich Shadow mit einem verächtlichen Grinsen. "Ist das so dein Ding? Immer zu spät zu kommen... und mit Lehrerinnen abzuhängen?"
Ich schnaubte. "Glaubst du wirklich, ich erzähle dir, was mein Ding ist?"
Shadow zuckte die Schultern.
"Naja, du könntest mir ja wenigstens erzählen, was du von der Morgan willst. Es gibt schon so einige Gerüchte darüber, dass du dir gute Noten erkaufen wolltest."
Ich lachte.
"Wieso sollte ich mir denn bitte gute Noten erkaufen wollen?"
Andererseits war der Fakt, dass Professor Morgan meine Mutter war, wahrscheinlich viel absurder als das.
"Keine Ahnung. Weil du es nötig hast?", konterte Shadow und begann Schattenbälle auf mich abzufeuern, denen ich gekonnt auswich.
"Wenn einer das nötig hätte, dann wohl du", erwiderte ich.
"Beweis es mir", entgegnete er mit einem süffisanten Grinsen.
Ich verengte die Augen und holte einmal tief Luft. Beim Ausatmen ließ ich meine Hände nach vorne schnellen, so wie ich es auch im See getan hatte. Und tatsächlich schien es zu funktionieren, denn Shadow wurde wie von Geisterhand nach hinten geschleudert. Die Luft, die ich auf ihn abfeuerte, hatte so eine Wucht, dass er sich mehrmals überschlug, bevor er einige Meter von mir entfernt auf dem Boden landete.
Allerdings fing er sich noch rechtzeitig ab, sodass er in der Hocke aufkam.
Er musterte mich mit einem herausfordernden Grinsen, bevor er aufsprang und mit Anlauf auf mich zuraste. Ich machte mich bereit, ihn mit einem neuen Luftstoß wegzuschleudern, doch da wurde Shadow plötzlich von einer Wolke aus Schatten umgeben, die ihn umhüllte und plötzlich verschwinden ließ.
Irritiert blinzelte ich und blickte auf die Stelle, an der Shadow sich eben noch befunden hatte.
"Na?", hauchte mir da auf einmal eine Stimme in den Nacken. Ruckartig drehte ich mich zu Shadow um.
"Wie zum Teufel...?!"
Er lachte. "Tja, du musst zugeben, Schattenkräfte sind schon ziemlich cool."
Ich verdrehte entnervt die Augen, konnte ein leichtes Grinsen jedoch nicht unterdrücken.
"Musst du denn immer plötzlich hinter mir auftauchen?!", fragte ich entrüstet.
"Bringt dich das etwa aus dem Konzept?", erwiderte Shadow, woraufhin ich ihn unsanft in die Seite boxte.
"Hey! Gewalt ist keine Lösung", ermahnte er mich gespielt ernst.
"Bei dir ist es wohl manchmal die einzig sinnvolle", entgegnete ich und konzentrierte mich auf das Kribbeln der Magie in meinen Fingerspitzen.
"Pass auf, was du sagst", murmelte Shadow schmunzelnd und verschränkte die Arme. "Sonst muss ich noch mal meinen Geheimtrick anwenden und dann beschwerst du dich sicher wieder, dass ich nicht fair kämpfe"
Ich grinste, als ich spürte, wie sich in meinen Handflächen ein paar Tropfen Wasser ansammelten und versuchte mich noch stärker auf das Gefühl zu konzentrieren, welches mich durchströmte, wenn ich die Kontrolle über das Wasser hatte.
Professor Morgan hatte mir vorhin gezeigt, wie ich selber Wasser erzeugen konnte, doch sie hatte mir auch gesagt, dass es einige Zeit dauern konnte, bis ich den Dreh raus hatte. Einen Versuch war es allerdings wert.
"Wieso grinst du so?", fragte Shadow etwas verunsichert und ließ Schatten aus seiner Handfläche auftauchen. Gerade als sich um ihn herum wieder die Schattenwolke ausbreitete, ließ ich das Wasser aus meinen Fingern schießen und lenkte es auf Shadow, sodass es ihn wie ein Strudel umwirbelte und die Schatten verschwinden ließ.
"Wie machst du das?", rief er fasziniert. Durch das Wasser wurde seine Stimme nahezu verschluckt und es klang, als käme sie von weit weg.
"Aline!" Plötzlich klang er panisch. "Hör auf!"
Ich versuchte wieder die Kontrolle über den Wasserstrudel zu erlangen, doch er schien sich verselbstständigt zu haben.
"Verdammt!", fluchte ich laut und biss mir nervös auf die Lippe.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich das Wasser wieder kontrollieren sollte.
Doch glücklicherweise stand Professor Rutherford nur einige Meter von mir entfernt und schritt ein, als sie bemerkte, dass ich meine Kräfte nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Sie brauchte nur eine Hand auf den Strudel zu richten und schon erstarrte das Wasser zu Eis und bröselte auseinander.
Shadow kniete auf dem Boden, hustete und spuckte Wasser.
Bestürzt hockte ich mich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
"Alles okay? Geht's dir gut?", fragte ich besorgt. "Oh Gott, es tut mir echt leid"
Shadow hustete noch einmal und schmunzelte dann. "Du hast gerade versucht, mich zu ertränken! Mir geht es also nicht unbedingt blendend."
Schuldbewusst blickte ich zur Seite.
"Oh Mann, ich werde zu Poseidon", murmelte ich leise.
"Was?", fragte Shadow verwirrt, doch ich schüttelte bloß den Kopf.
"Tut mir leid, Shadow. Ich wollte dich wirklich nicht ertränken - zumindest gerade nicht"
Ein Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit und auch Shadow lachte leise, musste dann jedoch wieder husten.
"Versuch nächstes Mal einfach, es nicht ganz so zu übertreiben", erwiderte er zwischen ein paar Hustern.
Professor Rutherford räusperte sich vorwurfsvoll neben uns.
"Das kann ich dir auch nur raten, Aline! So ein Kontrollverlust kann böse enden und ich kann das in meinem Unterricht nicht dulden!"
Ich nickte.
"Tut mir leid, Professor. Ich war einfach etwas überfordert."
"Dann solltest du dich demnächst lieber an einfacheren Aufgaben üben", gab Professor Rutherford nüchtern zurück und rauschte davon.
"Und? Wirst du dich daran halten?", fragte Shadow leise und warf mir einen amüsierten Blick zu.
"Keine Angst", erwiderte ich sarkastisch. "Wenn du es mal wieder verdient hast, bekommst du immer gerne eine Abreibung von mir!"
Wieder lachte er sein leises, heiseres Lachen. "Ich hatte gehofft, dass du das sagst."

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