58. Kapitel

2K 111 4
                                    

"Also, ich gehe definitiv nicht zu Geschichte", erklärte ich schnaubend und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich hatte wirklich keine Lust, einen blöden Spruch von Jones zu kassieren. Denn offensichtlich schäumte er vor Wut, seit Professor Morgan ihm die Ohrfeige verpasst hatte.
"Was ist mit dir?"
Shadow zuckte die Achseln.
"Na ja, es könnte nicht schaden, in Geschichte anwesend zu sein", murmelte er und warf mir einen leicht zerknirschten Blick zu.
Er wusste, dass ich gehofft hatte, er würde mit mir gemeinsam den Unterricht schwänzen.
Doch anscheinend hatten Jones Worte von gestern bei ihm mehr Eindruck hinterlassen, als ich gedacht hatte.
Ich hob skeptisch die Augenbrauen.
"Wie du meinst."
"Aline...", fing Shadow an.
Ich unterbrach ihn. "Wir sehen uns später"
Ich konnte nicht leugnen, dass es mich wurmte, dass Shadow sich in gewisser Weise auf Jones' Seite stellte - auch wenn ich natürlich wusste, dass er grundsätzlich hinter mir stand.
Wahrscheinlich hatte Jones sogar Recht gehabt und Shadow war sich selbst nicht treu geblieben, als er immer mehr Abstand von den Nyx und ihrem Denken nahm.
Es war nun einmal seine Fraktion und ich wollte nicht, dass er seine Überzeugungen wegen mir hinten anstellen musste.
Seufzend bog ich um die Ecke des Ganges.
"Aline", stellte Professor Morgan, die mir entgegenkam, überrascht fest. "Was machst du denn hier?"
Ich zuckte gleichgültig die Schultern.
"Hast du nicht gleich Geschichte?", hakte sie nach und zog die Augenbrauen misstrauisch zusammen.
Ich biss mir auf die Lippe und hoffte, dass sie meine Unsicherheit nicht bemerkte.
Doch sie schien mir mit ihrem durchdringenden Blick geradewegs in die Seele zu schauen.
"Ich weiß, das war keine schöne Erfahrung. Jones' Kräfte sind ziemlich stark und es war sicher heftig für dich, ihnen ausgesetzt zu sein", bemerkte sie. "Aber glaub mir: Er wird so etwas nicht noch einmal versuchen."
"Ich weiß", murmelte ich. "Aber ich will ihn einfach gerade nicht ertragen müssen."
Sie schmunzelte.
"Oh, dieses Gefühl kenne ich...!"
Auch ich entrang mir ein Lächeln.
"Professor Morgan?", fragte ich leise, als sie sich bereits zum Gehen wandte.
"Ja?"
"Danke nochmal, dass Sie sich für mich eingesetzt haben...", sagte ich und holte tief Luft, ehe ich weitersprach. "Ich weiß zwar nicht, ob ich das, jemals wirklich hinnehmen kann, was sie getan haben. Aber ich weiß jetzt, dass ich Ihnen vertrauen kann und ich denke wirklich, dass Sie für alle nur das Beste wollen. Und dass Sie wahrscheinlich ohnehin mit Ihrer Vergangenheit zu kämpfen haben - auch ohne, dass ich es Ihnen noch schwerer mache"
Sie lächelte überrascht.
"Danke, Aline. Das ist wirklich großmütig von dir. Und vielleicht kannst du mir ja noch mal eine Chance geben, es besser zu machen. Ich werde dir auf jeden Fall von jetzt an immer die Wahrheit sagen", beteuerte sie.
Ich nickte und erwiderte ihr Lächeln.
"Ach, und Aline?", fügte sie leise hinzu. "Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mich 'Minerva' nennen würdest."
Ich zögerte.
Sie weiterhin 'Professor Morgan' zu nennen, erschien mir irgendwie abweisend. Aber ich war noch nicht bereit dazu, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen und ihr damit vollends mein aufrichtiges Vertrauen zu schenken. Es fühlte sich einfach noch nicht richtig an.
Langsam schüttelte ich den Kopf.
"Ich schätze, das müssen Sie sich noch verdienen", erwiderte ich und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
Sie nickte zuversichtlich.
"Dann werde ich das"

Ich schlenderte gedankenverloren durch den Wald und beobachete einige seltsam aussehende Tiere, die durch die Bäume hüpften, während die Mittagssonne mein Gesicht wärmte.
Mittlerweile fühlte ich mich wesentlich sicherer in diesem Teil der Unterwelt.
Es war nun über drei Monate her, dass ich die Oberwelt und mein altes Leben hinter mir gelassen hatte. Doch es fühlte sich an, als wären bereits Jahre vergangen.
Ich zuckte leicht zusammen, als einige Äste hinter mir knackten, sagte mir dann jedoch, dass es keinen Grund gab, beunruhigt zu sein.
Die größte Bedrohung war schließlich überstanden.
Wieder ertönte ein Knacken, diesmal lauter.
Als jemand oder etwas hinter mir aufkreischte, fuhr ich herum.
Ungläubig starrte ich die beiden Nymphen an, die mich aus kalten Augen anfunkelten.
Das konnte doch nicht...!
Blitzschnell riss ich die Arme hoch und hinderte die Nymphen mit einem Luftstoß - gerade noch rechtzeitig - daran, mir zu nahe zu kommen.
Ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb, als sie zu töten, doch es graute mir vor dem Gedanken, meine Kräfte noch einmal auf diese Weise anzuwenden.
Andererseits war es diesmal anders.
Ich hatte Kontrolle darüber, was ich tat und ich musste es tun.
Während ich mich auf die beiden Nymphen konzentrierte und ihre Körper langsam schlaff wurden, merkte ich nicht, dass sich hinter mir ein Dutzend weiterer Nymphen aufgescharrt hatte.
Erst als sie kreischend auf mich zu rannten, bemerkte ich meinen Fehler und sprintete los.
Ich war zwar eine trainierte Läuferin, doch diese Kreaturen waren unheimlich schnell und nahmen sofort meine Verfolgung auf.
Mehrmals schlug ich Haken oder wechselte abrupt die Richtung, während ich grob auf die Akademie zusteuerte.
Ich schaffte es allerdings nicht, die Nymphen abzuhängen.
In meinem Kopf drängten sich Fragen. Wie konnte es sein, dass so viele von ihnen noch am Leben waren? Ich hatte die schaurigen Leichen schließlich mit eigenen Augen gesehen.
Und wieso hatte ich mich so leichtfertig sicher gefühlt?
Mein Atem ging immer schwerer und meine Seite schmerzte, doch immerhin konnte ich die Mauern, die die Akademie umgaben bereits sehen.
Ein lauter Pfiff ertönte und ich blickte hastig hinter mich.
Irritiert blieb ich stehen.
Die Fremde aus dem Café stand auf einer kleinen Erhöhung, die Nymphen waren in ihrer Bewegung verharrt und starrten zu ihr hoch.
"Deine Kräfte sind stärker als ich dachte", bemerkte die dunkelhaarige Frau. "Und auch deine Ausdauer ist wirklich bemerkenswert"
Ich sah sie perplex an und versuchte die Situation zu begreifen, als hinter mir eilige Schritte ertönten.
Ich drehte mich um und sah Professor Morgan, deren Blick besorgt auf mir lag und dann weiter zu den Nymphen wanderte, während ihre Schritte zögerlicher wurden.
"Ich habe Schreie gehört und...", fing sie an, während sie die Nymphen ungläubig musterte. Ihre Haltung war angespannt, als erwartete sie, dass die Kreaturen im nächsten Augenblick auf uns zu stürmen würden.
"Wie kann das sein...?", hauchte sie benommen und schien erst da die Fremde zu entdecken.
Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck stillen Entsetzens an und eine Leichenblässe überzog ihre Haut.
Und da wusste ich es:
Sie kannte diese Frau nur allzu gut.

Academy of Salem Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt