6. Kapitel

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Es waren mehrere Wochen vergangen seit ich mit Sofía die Unterwelt das erste Mal betreten hatte.
Weihnachten war tatsächlich ziemlich schön geworden und der neue Lover meiner Tante hatte sich als wirklich netter Kerl herausgestellt.
Weder ich noch Leonora hatten die Sache mit den Kräften noch einmal erwähnt. Und vielleicht war es auch besser so...
Doch als Sofía mir zwei Tage vor Silvester per WhatsApp mitteilte, dass sie etwas über meinen Vater herausgefunden hatte und sie sich bereits freute, mich wiederzusehen, war ich mir mit meinem Entschluss nicht mehr so sicher.
Gerade als ich mich umziehen wollte, um joggen zu gehen und den Kopf frei zu bekommen, klopfte Leonora an meine Zimmertür.
"Hey Aline, können wir reden?", fragte sie von draußen.
"Klar, komm rein", erwiderte ich, während ich in meinem Schrank nach meiner Sportjacke suchte.
Leonora musterte mich skeptisch.
"Meinst du nicht, es ist etwas zu kalt zum Laufen gehen?"
Ich zuckte die Schultern. "Ich halte mich ja warm"
Dann wandte ich mich meiner Tante zu. "Also, was gibt's?", fragte ich.
"Ich möchte etwas mit dir besprechen", erklärte sie und ließ sich auf meinem Bett nieder. Mit einer Hand klopfte sie auf den freien Platz neben sich. "Setz dich."
Etwas unsicher ließ ich mich auf das Bett sinken.
"Ich möchte mit dir über diese... Kräfte reden", fing Leonora an und ich sah ihr an, wie viel Kraft es sie kostete, mit mir darüber zu sprechen.
"Ich habe ja letztens diese Akademie erwähnt. Ich weiß nicht allzu viel darüber. Aber John hat mir damals erzählt, dass dort Leute wie er... wie du... lernen können, ihre Kräfte zu kontrollieren. Und, dass..."
Sie hielt inne und musterte mich stirnrunzelnd.
"Das weißt du schon, oder?", fragte sie leise.
Ich nickte zögerlich. "Ja. Ich war sogar dort."
Die Augen meiner Tante weiteten sich überrascht.
"Wann? Aber wieso..."
Wieder stockte sie.
"Hör zu, Aline. Ich denke nicht, dass ich diese Sache jemals verstehen kann. Aber ich werde dich nicht davon abhalten, wenn du herausfinden willst, was es damit auf sich hat", murmelte sie. "Alles was ich tun kann, ist dich zu warnen. Aber es ist dir überlassen, was du tun willst. Also..."
Ich nickte.
"Danke, Leonora. Das bedeutet mir viel, dass du das sagst", antwortete ich. "Allerdings weiß ich selbst noch nicht so ganz, ob ich das wirklich tun will. Ich meine, natürlich will ich herausfinden, was das alles ist und vielleicht kann ich so mehr über meine Eltern erfahren. Aber das alles klingt so absurd... Das ist doch irgendwie echt verrückt!"
Ich lachte.
Leonora lächelte halbherzig.
"Überleg es dir einfach. Aber lass uns jetzt mal wieder gemeinsam etwas zum Mittagessen kochen."
"Klar. Gerne", erwiderte ich schmunzelnd, erhob mich von meinem Bett und lief in die Küche.
"Also?", fragte ich, während ich Eier und Milch aus dem Kühlschrank nahm. "Ist das mit deinem neuen Freund etwas Langfristiges? Ist er der Eine?"
Ich grinste verschwörerisch.
Leonora wurde etwas rot und wandte sich schnell zur Küchenanrichte.
"Ja vielleicht... Also, ich hoffe es"
Sie lächelte gedankenverloren.
Ich hoffte es auch.
Denn dann würde ich mich weniger schlecht fühlen, wenn ich meine Tante hier alleine ließ.
Vielleicht war das egoistisch.
Aber ich wollte einfach sichergehen, dass sie in guten Händen war.
Ich dachte an die Nachricht an Sofía, die ich vorhin bereits eingetippt, allerdings noch nicht abgeschickt hatte. Vielleicht hatte ich meine Entscheidung ja doch schon getroffen...

"Und du bist wirklich sicher, dass du das willst?", fragte Leonora ein wenig besorgt, während sie misstrauisch meinen Koffer beäugte.
"Ja, bin ich", versicherte ich ihr zum wiederholten Male. "Und wenn mir das alles zu viel wird, komme ich einfach wieder nach Hause."
Meine Tante nickte und schniefte leise.
"Okay. Aber melde dich mal ab und zu"
"Werde ich machen", versprach ich und steckte mein Handy samt Ladekabel und Kopfhörern in meinen Rucksack.
"Und pass auf dich auf, Aline", fügte Leonora hinzu und reichte mir ein Lunch-Paket an.
Irgendwie war es tatsächlich sehr rührend von ihr, dass sie an ihrem freien Tag extra so früh mit mir aufgestanden war und mir dann auch noch ein Lunch-Paket gemacht hatte.
Andererseits würden wir uns wohl wirklich eine ganze Weile nicht sehen. Seit vierzehn Jahren war ich kaum länger als ein paar Tage von meiner Tante getrennt gewesen. Es würde also auch für mich etwas ungewohnt werden.
Wobei spontane Entschlüsse wohl die besten waren. Denn hätte ich mehr als drei Tage Zeit für meine Entscheidung gehabt, hätte ich es mir womöglich wieder anders überlegt.
Natürlich wusste ich immer noch kaum, was mich erwartete. Doch es hatte etwas Beruhigendes an sich, zu wissen, dass ich an genau dem Ort sein würde, an dem mein Vater ebenfalls einen Teil seines Lebens verbracht hatte.
Nach einem Blick auf die Uhr, die mir verriet, dass mir noch etwas Zeit blieb, bis Sofía mich abholte, lief ich ein letztes Mal in mein Zimmer.
Es fühlte sich nicht wirklich an, als würde ich mein Zuhause verlassen, da die Wände meines Zimmers noch zum Großteil kahl waren und ich außer ein paar wenigen Wertsachen auch kaum etwas hatte, was ich bei einem Umzug mitnehmen würde.
Ich öffnete meine Nachttischschublade und fuhr mit den Fingern über das Bild meines Vaters.
Was hätte ich wohl für ein Leben führen können, wenn er nicht gestorben wäre? Oder wenn meine Mutter uns nicht im Stich gelassen hätte?
Ich seufzte. Es brachte ja nichts, sich etwas zu wünschen, von dem man eigentlich keine Ahnung hatte.
Es fühlte sich falsch an, Traurigkeit bei dem Gedanken an meine Eltern zu empfinden - als hätte ich kein Anrecht darauf.
Ich hatte wohl noch einige Zeit so da gesessen, denn irgendwann rief Leonora nach mir und riss mich somit aus meinen Gedanken.
"Ja, ich komme", rief ich zurück und steckte dann schnell die beiden Fotos in meinen Rucksack.
Als Leonora mich nach draußen brachte, hatte sie Tränen in den Augen.
"Ach, Aline. Bist du sicher, dass du das willst?"
Ich nickte und schloss sie in eine feste Umarmung, woraufhin Leonora schluchzte.
"So lange ist es doch gar nicht. Im Sommer habe ich Ferien und dann komme ich sofort wieder hierher.", versicherte ich ihr.
Sie nickte und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Morgenmantels aus dem Gesicht.
"Okay. Na dann"
Sie schniefte.
"Pass auf dich auf. Und mach keinen Ärger"
Ein Schmunzeln erschien auf ihrem verweinten Gesicht und auch ich grinste.
"Klar doch - solange du auch gut auf dich aufpasst!"
Ein Hupen von Sofía ermahnte mich, mich zu beeilen und so warf ich meiner Tante einen letzten Blick zu, ehe ich meinen Koffer in Sofías Kofferraum verstaute und anschließen selbst in das Auto stieg.

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