22. Kapitel

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Das 'Überlebenstraining' bei Professor Morgan fand als einziges Fach nicht auf dem Gelände der Akademie statt.
Stattdessen versammelten wir uns auf einer Lichtung im Wald.
"Sicherlich habt ihr alle schon einmal von Sumpflichtern gehört", begann Professor Morgan die Stunde.
"Doch obwohl sie sehr schön anzusehen sind, sind sie auch sehr gefährlich."
Einige Schüler murmelten zustimmend.
Während Professor Morgan uns erklärte, dass Sumpflichter Wahnvorstellungen hervorrufen konnten und viele Menschen so in den Tod locken würden, entdeckte ich im Gras einen kleinen Pilz, der mich anstarrte.
Es handelte sich dabei um eine Art Fliegenpilz - allerdings mit winzigen Ärmchen und Beinchen und großen, runden Augen, die auf mich gerichtet waren.
Verblüfft starrte ich zurück.
"Ich glaube er mag dich", stellte Argon grinsend fest.
"Was ist das?", flüsterte ich und musterte den Pilz, der mich treuherzig anlächelte.
"Ein Kobold", erklärte Argon leise.
"Ein Kobold? Ich dachte, Kobolde wären irgendwie unheimlicher und weniger... niedlich"
Verunsichert schenkte ich dem Kobold-Pilz ein zaghaftes Lächeln.
Argon schmunzelte.
"Ne, Kobolde sind total ungefährlich und auch weniger menschenscheu, als die meisten anderen Wesen."
Neugierig beugte ich mich zu dem kleinen Etwas vor meinen Füßen hinunter und streckte vorsichtig meine Hand aus.
Nach einigen Sekunden bewegte sich der Kobold und ließ sich zögerlich auf meiner Hand nieder.
"Hey du", sagte ich grinsend.
Der Kobold grinste zurück, und es war mir, als hätte er genau verstanden, was ich gesagt hatte.
Doch bevor ich weiter mit meinem neuen, winzigen Freund reden konnte, wandte sich Professor Morgan an mich.
"Langweilt dich der Unterricht, Aline?", fragte sie streng.
Ich schüttelte den Kopf und setzte den Kobold vorsichtig wieder ab, woraufhin dieser mich etwas enttäuscht anblickte.
"Bis dann", flüsterte ich lächelnd und folgte dann Professor Morgan durch den Wald.
Da wir nach der Stunde erst einmal Pause hatten, machte ich mich wieder auf die Suche nach dem kleinen Kobold.
"Du scheinst dich hier in der Unterwelt ja ziemlich wohl zu fühlen", bemerkte Professor Morgan, die plötzlich hinter mich getreten war.
Ich zuckte die Schultern. "So verrückt das alles hier auch ist, es gefällt mir besser als an jedem anderen Ort, an dem ich bisher war. Und glauben Sie mir", fügte ich schmunzelnd hinzu. "Ich bin schon an wirklich vielen Orten gewesen."
Sie nickte.
"Ja ich weiß. Es tut mir leid, dass du so viel umziehen musstest. Das muss sicher nicht leicht gewesen sein"
Ich biss mir auf die Lippe. Eigentlich hatte ich wirklich keine Lust, mir ihre Entschuldigungen anzuhören oder so zu tun, als ob ich diese ganze Mutter-Tochter-Sache auf einmal hinnahm.
Meine Mutter hatte mich vor fünfzehn verlassen. Das hier war nur eine fremde Frau aus einer fremden Welt, die mich im Überlebenstraining unterrichtete und die rein gar nichts über mich wusste.
"Landon hat mir erzählt, dass eure Trennung ziemlich plötzlich kam", sagte ich, ohne Professor Morgan anzublicken. "Er kannte John ziemlich gut und doch hat er es nicht verstanden. Also habe ich mich gefragt, warum Sie ihm nicht in die Oberwelt gefolgt sind. Warum haben Sie ihn einfach gehen lassen?"
"Das ist nicht so einfach zu beantworten", erwiderte Professor Morgan ausweichend.
"Aber glaub mir, das war nicht ausschließlich aus egoistischen Gründen"
"Achja?", fragte ich verächtlich und starrte weiterhin nur den Boden an.
"Ihr Job war Ihnen wichtiger als Ihre Familie und das war dann total selbstlos?"
Professor Morgan seufzte.
"Es lag nicht nur an meinem Job. Ich wusste einfach, dass es für euch sicherer in der Oberwelt sein würde. Und ich durfte nicht gehen, selbst wenn ich gewollt hätte"
Ich verschränkte die Arme und kam mir dabei ein bisschen vor wie ein trotziges Kind. Doch das war wirklich eine schwache Entschuldigung!
"Wissen Sie was? Ich habe genug von Ihren Erklärungen"
Ich wandte mich von ihr ab und machte mich auf den Weg zurück zur Akademie.
Allerdings war auf meinen Orientierungssinn nun wirklich kein Verlass, sodass ich mich irgendwann frustriert auf einen großen Stein fallen ließ, als die Bäume um mich herum immer dichter wurden. Wie es aussah, war ich immer tiefer in den Wald gelaufen, statt zurück zur Akademie.
Gerade als ich mein Handy herausholen wollte, um Eve zu schreiben, dass ich voraussichtlich zu spät zu 'Kunde der Sprachen' kommen würde und sie sich eine gute Ausrede für Professor Jones überlegen musste, bewegte sich urplötzlich der Stein unter mir.
Genauer gesagt begann er erst zu beben und zu schnaufen, und als ich erschrocken davon herunter sprang, richtete er sich auf.
Anscheinend sahen die meisten Wesen der Unterwelt aus wie Pflanzen oder Steine. Doch ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn der Stein wirkte äußerst wütend. Zu seiner vollen Größe aufgerichtet sah er aus wie ein beharrter Urzeitmensch mit grauer Haut und einer Art Schutzpanzer auf dem Rücken. Auf seinem Kopf thronten zwei schneckenförmig eingedrehte Hörner. Das unheimlichste waren jedoch die rot glühenden Augen, die direkt auf mich gerichtet waren und das markerschütternde Brüllen, welches das Stein-Wesen nun ausstieß.
Mir blieb keine Zeit, zu reagieren, oder vor dem Wesen wegzurennen, denn es machte blitzschnell einen Satz nach vorn. Ich spürte bereits seinen fauligen Atem auf meiner Haut, als es auf einmal von einer unsichtbaren Wucht von mir weggeschleudert wurde.
Das graue Wesen richtete sich allerdings sofort wieder auf, starrte etwas hinter mir angsterfüllt an und flüchtete dann tiefer in den Wald.
Mit einem unguten Gefühl drehte ich mich um, um zu sehen, was meinen Angreifer in die Flucht geschlagen hatte.
"Professor!", stellte ich überrascht fest und atmete erleichtert aus. "Ich dachte, Sie wären zurück zur Akademie gegangen."
Professor Morgan musterte mich mit einem tadelnden Blick. "Und ich dachte, du hättest zugehört, was ich heute über Waldmänner gesagt habe."
Ertappt blickte ich zu Boden.
"Man sollte sie also lieber nicht verärgern?"
Professor Morgan nickte.
"Genau. Und vor allem sollte man es nicht alleine mit ihnen aufnehmen."
"Vor Ihnen hatte er aber ganz schön Angst", stellte ich fest.
Professor Morgan schmunzelte. "Nun ja, die meisten hier wissen, dass man sich nicht mit mir anlegen sollte. Das gleiche gilt natürlich jetzt für meine Tochter."
Sie richtete ihren Blick auf mich. "Wenn irgendjemand versuchen sollte, dir etwas anzutun, werde ich für dich da sein, Aline. Das war ich schließlich schon immer - auch wenn du das nicht wusstest und es mir womöglich auch nicht glaubst. Aber daran wird sich nichts ändern", fuhr sie fort und ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. "Ob du willst oder nicht"
Ich konnte nicht verhindern, ebenfalls zu lächeln.
"Also dann", fuhr Professor Morgan wieder in sachlichem Ton fort. "Du solltest eigentlich bereits im Unterricht sitzen."
Schuldbewusst nickte ich und erwartete, dass sie mich jetzt auffordern würde, schleunigst mit ihr zur Akademie zurückzukehren.
Doch wieder überraschte sie mich.
"Wie wäre es, wenn ich mir eine Ausrede für Professor Jones überlege und ich dir noch etwas zeige?"
"Was?"
Mein Verblüffung war mir wahrscheinlich nur allzu deutlich anzusehen.
"Außer natürlich du möchtest unbedingt etwas über die Sprachen der indigenen Völker der Unterwelt lernen", erwiderte sie lachend.
Vehement schüttelte ich den Kopf.
"Liegt es an dem Fach oder an Jones?", erkundigte sich Professor Morgan grinsend. "Ich sag's auch nicht weiter"
"Sagen wir es so: Professor Jones und ich sind nicht besonders angetan voneinander", erklärte ich und folgte ihr durchs Dickicht.
"Oh, glaub mir, niemand kann diesen Mann ausstehen. Auch wenn Grace zu professionell ist, das zuzugeben. Aber von Harry habe ich schon mehr als einmal gehört, dass Jones ihn zur Weißglut bringt."
Sie kicherte gedankenverloren und ich genoss es, sie so unbeschwert zu erleben. Wenn sie nicht gerade die strenge Lehrerin spielte, war sie wahrscheinlich sogar eine ziemlich sympathische Person. Und vielleicht war ich ihr gegenüber zu schnell voreingenommen gewesen.
"Während seiner Schulzeit an der Akademie war Jones aber weniger angsteinflößend", erzählte Professor Morgan weiter. "Bevor er gelernt hat, seine Kräfte zu kontrollieren, war er meist eher das Gespött der anderen Schüler. Ich denke, er hasst es, dass ich auch diese jüngere, schwächere Version von ihm kenne. Deswegen versucht er mir gegenüber besonders häufig seine Macht zu demonstrieren"
Sie seufzte.
"Sie kannten ihn schon als er noch Schüler war?", fragte ich neugierig nach.
Professor Morgan nickte. "Er ist ja selbst erst seit zwei Jahren Lehrer an der Akademie. Und als er noch Schüler war, war ich eine frisch angelernte Lehrerin."
"Und wie lange ist Harry schon Kampftrainer?", fragte ich.
"Einige Jahre nachdem ich Leiterin der Artemis geworden war, habe ich ihn bei einem Showkampf gesehen. Aber eigentlich wollte er auf keinen Fall an der Akademie unterrichten." Sie lächelte bei dem Gedanken daran. "Ich musste ihn quasi zu einem Bewerbungsgespräch zwingen!"
Ich grinste, weil ich mir das nur allzugut bei Harry vorstellen konnte.
Einige Minuten liefen wir schweigend weiter, dann stellte ich endlich die Fragen, die mir die ganze Zeit auf der Zunge brannten.
"Wieso haben Sie niemandem von mir und John erzählt? Wieso wollten Sie ihre Vergangenheit unbedingt hinter sich lassen?"
Professor Morgan blickte mich überrascht an, als hätte sie nicht erwartet, dass ich das früher oder später fragen würde.
"Ich schätze", sagte sie leise, "es wäre einfach zu schmerzhaft gewesen, darüber zu sprechen. Die Entscheidung, nicht mit euch in die Oberwelt zu kommen, ist mir damals wirklich nicht leicht gefallen."
Ich schnaubte. Möglicherweise hätte ich gar nicht erst fragen sollen. Denn die Antworten, die mir Professor Morgan gab, waren alles andere als das, was ich hätte hören wollen.
"Ich wusste einfach, dass ich nicht gut für dich wäre. Und John wusste das auch", rechtfertigte sie sich.
"Es ist ja nicht so, als hätte ich meine Familie aus einer Laune heraus verlassen."
Ich schluckte.
"Hatten Sie dann überhaupt vor, mir zu erzählen, dass Sie meine Mutter sind?"
Langsam schüttelte sie den Kopf.
"Nein. Ich dachte wirklich, es wäre besser so. Es tut mir leid, Aline."
Bevor ich etwas erwidern konnte, redete sie weiter.
"Ich weiß, dass du enttäuscht bist und ich weiß auch, dass ich mir dein Vertrauen erst verdienen muss. Aber bitte glaub mir, dass es für mich unglaublich schwer war, deinen Vater und dich zu verlassen. Ich habe immer bereut, dass es so gekommen ist. Aber ich konnte nichts mehr daran ändern."
Ihre Stimme begann zu zittern.
"John war die Liebe meines Lebens und ich habe die letzten vierzehn Jahre damit verbracht, um ihn zu trauern. Ich habe meine Vergangenheit nicht einfach hinter mir gelassen und weitergemacht", beteuerte sie.
Skeptisch blickte ich sie an und suchte in ihren Augen nach etwas, das mir zeigte, dass sie wirklich die Wahrheit sagte.
Wie, als wüsste sie, dass es mir schwerfiel, ihr Glauben zu schenken, holte sie zum Beweis eine Kette unter ihrem Rollkragenpullover hervor.
Daran hing ein kleiner goldener Ring - ihr Ehering, wie mir nach einigen Sekunden aufging.
"Den trage ich immer bei mir", gab sie leise zu. "Ich habe ihn nicht einfach vergessen. Und ich habe dich nicht vergessen"

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