𝟣𝟥. 𝘒𝘢𝘱𝘪𝘵𝘦𝘭

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Während Grace Rutherford den Gang mit schnellen Schritten hinunterlief, versuchte sie nicht zu sehr über den enttäuschten Blick des Mädchens nachzudenken.
Aline hatte es wirklich verdient ihre Mutter kennenzulernen oder zumindest zu wissen, wer sie war.
Diese feste Überzeugung vertrat sie bereits, seit sie erfahren hatte, dass Aline auf die Akademie gehen würde.
Grace hatte John wirklich gern gehabt. Auch nach seiner Schulzeit war er ab und zu vorbeigekommen, um sich mit ihr zu treffen, hatte ihr aufmerksam zugehört und ihr lächelnd von seiner Ausbildung erzählt, zu der Grace ihn motiviert hatte.
Grace hatte noch nie einen Schüler anders behandelt als die anderen, aber wenn sie sich zugestanden hätte, einen Lieblingsschüler zu haben, wäre es John Blackwell gewesen.
Aline schien ihre Offenheit und Neugierde eindeutig von ihrem Vater zu haben. Sie sah ihm außerdem erstaunlich ähnlich.
Den Dickkopf hatte sie allerdings von ihrer Mutter...
Auf Grace' energisches Klopfen hin, wurde die Tür des kleinen Büros von Harry geöffnet.
"Hallo Grace", begrüßte er sie gut gelaunt und bat sie mit einer Geste einzutreten.
Grace zögerte kurz, dann kam sie seiner Geste nach.
"Ich wollte eigentlich nur kurz mit Minerva sprechen", erklärte sie, während sie die Tür leise hinter sich schloss.
"Was ist los?", erwiderte Minerva Morgan, die an ihrem Schreibtisch saß und irgendwelche Schülerakten abheftete.
Grace räusperte sich, wie immer wenn ein unangenehmes Gespräch bevorstand. "Es ähm... geht um deine Tochter", murmelte sie und bedeutete Minerva mit einem Blick zu Harry, dass sie dieses Thema vielleicht nicht vor ihm besprechen sollten.
Die Leiterin der Artemis schüttelte den Kopf. "Schon gut. Harry kann hier bleiben. Er weiß Bescheid"
Grace musterte die beiden verwirrt. Normalerweise sprach Minerva mit niemandem über ihren verstorbenen Mann oder ihre Tochter. Und Grace war die einzige an der Schule, die John gekannt hatte.
"Ich hatte schon so eine Ahnung, als ich Aline das erste Mal gesehen habe", erklärte Harry. "Und heute ist es mir dann klar geworden"
Grace schmunzelte leicht.
Natürlich. Harry und seine Menschenkenntnis.
"Also?", fragte Minerva etwas ungeduldig. Sie schien dieses Thema schleunigst beenden zu wollen. "Was ist mit ihr?"
"Du solltest es ihr sagen"
Grace konnte nicht umhin, vorwurfsvoll zu klingen.
Doch das war ihr recht. Was auch immer Minerva für Gründe hatte, ihre Tochter nicht kennenlernen zu wollen, das war Aline gegenüber einfach nicht fair. Und John gegenüber.
"Das ist nicht deine Angelegenheit, Grace", erwiderte Minerva kühl.
"Aber es ist das einzig Richtige!", beharrte Grace.
"Dieses Mädchen hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer ihre Mutter ist. Sie ist deine Tochter, Minerva! Das bringt Verantwortung mit sich und ich verstehe nicht, wieso du dich seit Jahren dieser Verantwortung entzogen hast. Aber jetzt ist Aline hier. Und jetzt kannst du das wieder gut machen"
Minerva starrte ihre Kollegin fassungslos an und Grace erwartete schon, dass sie gleich von ihr aus dem Büro geworfen werden würde oder wüste Beschimpfungen zu hören bekam.
Doch Minerva schluckte bloß und Grace sah, wie eine Träne ihre Wange hinunterlief.
Harry schien etwas überfordert mit der Situation und stand einige Meter entfernt von den beiden Frauen. Er sah aus, als wüsste er nicht genau, was er über das alles denken sollte.
Grace hingegen wusste genau, was sie dachte.
Und endlich war sie mit diesen Gedanken zu Minerva durchgedrungen.

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