"Du solltest dich wirklich darauf konzentrieren, zu lernen, wie du deine Kräfte kontrollieren kannst, Aline.", wies mich Professor Morgan an und wandte sich dann zu Eve und Kilian.
"Und ihr beiden solltet euch lieber zusammenreißen. Wenn euch mein Unterricht zu langweilig ist, könnt ihr gerne ein paar Extra-Stunden am Wochenende in der Schule verbringen. Da wird euch sicher nicht langweilig werden - das verspreche ich euch"
Es lag ein scharfer Unterton in ihrer Stimme, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie diese Drohung wahr machen würde, sollten Eve und Kilian sich ihr widersetzen.
"Entschuldigen Sie, Professor", murmelte Kilian höflich.
Den Rest der Stunde versuchte ich mich auf meine Kräfte zu konzentrieren und sie genauso spielend leicht zu bändigen wie Argon - jedoch ohne Erfolg.
Das einzige, was ich zu Stande brachte, war eine viel zu große Wasserfontäne, die den gesamten Klassenraum unter Wasser setzte, und wegen der ich nach der Stunde länger bleiben und den Boden wischen musste.
Ab und zu erwischte ich mich dabei, wie ich Shadow verstohlene Blicke zuwarf, während dieser kunstvolle Schatten durch die Luft schweben ließ.
Anscheinend waren die Schatten seine Kraft - daher auch der unglaublich originelle Name.
"Sollen wir dir noch helfen?", fragte Argon, nachdem die Stunde für beendet erklärt worden war.
"Nein, geht ihr ruhig schon vor", antwortete ich und wandte mich dem nassen Boden zu.
"Okay, dann bis später", sagte Argon mit einem aufmunternden Lächeln und folgte Eve und Kilian aus dem Klassenraum.
"Warte mal, Aline", unterbrach mich Professor Morgan. "Die ganzen Tücher brauchst du nicht."
Verwundert hielt ich inne und blickte zu ihr hoch.
"Aber...?", wollte ich widersprechen.
"Steh auf. Und jetzt schließ die Augen"
Ich tat wie mir geheißen.
"Konzentrier dich, Aline. Du musst das Wasser fühlen. Du musst es spüren lassen, dass du die Kontrolle darüber hast, nicht umgekehrt."
Ich nickte und versuchte mich auf das Wasser auf dem Boden zu konzentrieren.
"Jetzt musst du es nur noch trocknen lassen"
Ich holte einmal tief Luft. Als ich wieder ausatmete spürte ich ein sanftes Kribbeln meinen Körper durchlaufen. Es erinnerte mich an das Gefühl, als ich bei der Zeremonie den Kreis betreten hatte.
"Du kannst die Augen wieder aufmachen", sagte Professor Morgan leise.
Erstaunt blickte ich mich um. Nicht ein einziger Tropfen war auf dem Boden übrig geblieben.
Ich grinste. Das war mal eine wirklich praktische Kraft!
"Du solltest dich jetzt wohl besser zu deinem nächsten Unterricht aufmachen", murmelte Professor Morgan.
Ich nickte. "Ich wollte Sie nur vorher noch kurz etwas fragen, wenn das okay ist"
"Natürlich", erwiderte sie.
"Was wissen Sie über John Blackwell, Professor?", setzte ich an.
"Ich habe ein altes Schulfoto gesehen, auf dem Sie beide zu sehen sind. Falls Sie mir etwas über ihn sagen können, würde mir das viel bedeuten. Er war mein Vater."
Zum Ende hin wurde ich immer leiser, denn Professor Morgan musterte mich mit einem durchdringenden Blick.
Eine Weile schwieg sie. Dann räusperte sie sich.
"Nein, tut mir leid. Ich kann dir nichts über deinen Vater sagen. Ich habe ihn kaum gekannt", erklärte sie.
Als sie meinen enttäuschten Blick sah, fügte sie mit einem milden Lächeln hinzu: "Vielleicht kann dir Professor Rutherford etwas über ihn erzählen. Sie war damals seine Fraktionsleiterin."
Ich nickte ein wenig frustriert, und hoffte, dass Professor Rutherford mir wirklich etwas über John erzählen konnte. Wenn ich schon an diesem Ort war, musste ich doch irgendwie der Geschichte meines Vaters auf die Spur kommen.
"Danke nochmal", murmelte ich, kramte meine Sachen zusammen und wandte mich zum Gehen.
"Gern geschehen", erwiderte Professor Morgan und sah mir mit einem eigenartig glasigem Blick nach.Zur 'Lehre der Natur' kam ich durch meinen Wasserfontänen-Zwischenfall ein paar Minuten zu spät, was die kleine, stämmige Lehrerin schulterzuckend hinnahm.
Die gesamte Stunde über erzählte sie mit einem solchen Enthusiasmus über irgendwelche Pflanzen, als hinge ihr Leben davon ab. Irgendwann schaltete ich ab und blickte einfach aus dem Fenster. Kilian und Eve, mit denen ich dieses Unterrichtsfach gemeinsam hatte, schienen auch nicht sonderlich interessiert und unterhielten sich flüsternd.
Nach dem Abendessen, welches genau wie das Frühstück ziemlich groß ausfiel, lief ich zu Professor Rutherford herüber.
Sie erschien mir noch respekteinflößender, seit Eve mir erzählt hatte, dass sie über Elementarkräfte, genauer gesagt über Eiskräfte, verfügte. Irgendwie passte das unglaublich gut zu dieser kühlen, mitleidlosen Frau.
Ich räusperte mich.
"Könnte ich Sie kurz sprechen?", fragte ich, woraufhin die Leiterin der Eunomia ihren Blick hob.
"Worum geht es?", fragte sie und folgte mir aus dem Speisesaal.
"Um meinen Vater", erklärte ich und schluckte. "Er hieß John Blackwell und war laut Professor Morgan einer Ihrer Schüler."
Professor Rutherford runzelte die Stirn. "Und du willst von mir etwas über ihn erfahren?"
Ich nickte. "Ja. Ich weiß kaum etwas über ihn. Vor allem weiß ich nichts über meine Mutter." Ich musterte Professor Rutherford, auf deren Gesicht ein mitleidiger Blick erschien. "Du warst noch sehr jung als John gestorben ist, richtig?", fragte sie.
"Sie wissen sogar, wann er gestorben ist?", entgegnete ich und schlussfolgerte, dass sie noch einiges anderes über John wissen musste.
"Nun, er war einer meiner Schüler. Dazu noch ein sehr guter."
Sie betrachtete mich und ihre Augen schnellten hin und her, als überlege sie angestrengt, was sie mir erzählen konnte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass da etwas war, von dem niemand wollte, dass ich es erfuhr.
"Er hatte Wasserkräfte, so wie du", fuhr Professor Rutherford nach einem kurzen Schweigen fort.
"John war begabt, allerdings nicht sonderlich ehrgeizig. Außerdem war er viel zu sehr damit beschäftigt, verrückte Pläne mit seinen Freunden auszuhecken, um groß über die Schule oder seine Zukunft nachzudenken."
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, was mich überraschte, da ich Professor Rutherford bisher noch kein einziges Mal auch nur die Mundwinkel hatte heben sehen.
"Dein Vater war ein unglaublich warmherziger, offener und ehrlicher Mensch. Er hielt jedes einzelne seiner Versprechen - was in der heutigen Zeit leider etwas eher Seltenes geworden ist."
Ich folgte ihr aufmerksam und nahm jedes ihrer Worte dankbar in mir auf. Irgendwie war es in gewisser Weise tröstlich, zu erfahren, dass er ein wirklich guter Mensch gewesen sein musste. Andererseits ließ es den absurden Wunsch in mir aufkommen, ich hätte ihn richtig kennengelernt.
"Können Sie mir etwas über... meine Mutter sagen?", fragte ich zögerlich, weil ich einerseits nicht wusste, ob ich von der Frau, die mich und meinen Vater verlassen hatte, wirklich etwas wissen wollte, und da ich andererseits befürchtete, Professor Rutherford würde mir nun mitteilen, dass sie ebenfalls gestorben war.
Keins von beidem war der Fall.
Die ältere Dame mit ihrem grauen Haarknoten blickte mich bloß stumm an. In ihrem Blick lag etwas Schmerzerfülltes.
Sie räusperte sich verlegen. "Tut mir leid. Ich kann dir nichts über deine Mutter sagen."
So leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir nicht doch nur eingebildet hatte, fügte sie hinzu: "Ich darf es nicht."
"Sie wissen also, wer meine Mutter ist?", fragte ich und dachte gar nicht daran, jetzt locker zu lassen.
Professor Rutherford seufzte.
"Ja, ich kenne deine Mutter."
Mit geweiteten Augen blickte ich sie an und versuchte diese Information zu verarbeiten. Wenn Professor Rutherford sagte, sie kenne meine Mutter, musste sie noch am Leben sein. Wahrscheinlich war sie sogar hier in Salem.
"Aber ich kann nichts weiter für dich tun, wenn sie sich nicht von selbst bei dir meldet", fügte die Lehrerin entschieden hinzu.
"Tut mir leid, Aline. Ich muss jetzt los"
Bevor ich etwas einwenden konnte, wandte sie sich mit einem knappen Nicken von mir ab und lief eiligen Schrittes davon.
Frustriert blickte ich ihr hinterher und versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ich ziemlich hartnäckig sein konnte und früher oder später etwas aus Professor Rutherford herausbekommen würde.
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Academy of Salem
FantasyAls Aline an der mysteriösen Akademie angenommen wird, verändert das ihr Leben vollkommen. Sie entdeckt eine neue Welt voller Magie und düsterer Geheimnisse. Und dann ist da noch dieser Junge, den sie eigentlich nicht mögen sollte, der ihr aber einf...