2. Kapitel

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Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und überlegte schon, ob ich nicht doch einfach wieder ins Haus gehen sollte, als ein kleines, weißes Auto direkt vor meiner Nase hielt.
Das Fenster wurde heruntergekurbelt und ich blickte der Fremden in die Augen, die mich gestern einfach so aus dem Nichts angesprochen und auf einen Kurztrip nach Salem eingeladen hatte.
Eigentlich hatte ich gar nicht mitkommen wollen. Ich kannte sie schließlich überhaupt nicht! Und vielleicht wollte sie mich ja auch einfach entführen.
Bei diesem Gedanken lachte ich in mich selbst hinein.
Sofía sah nicht gerade nach jemandem aus, der fremde Mädchen entführte. Außerdem war das mit den Kräften nicht gelogen gewesen.
"Willst du die ganze Zeit nur da rumstehen und mich anstarren?", fragte Sofía. "Oder steigst du jetzt ein?"
Ich biss mir auf die Lippe.
"Ich weiß nicht... Salem ist doch ziemlich weit von hier. Das sind fast 800 Meilen."
Sie zuckte die Schultern. "Deine Tante arbeitet doch sowieso das ganze Wochenende. Und außerdem geht sie dir doch gerade aus dem Weg, oder?"
Ich schluckte. Sofía hatte Recht. Seit dem Zwischenfall in der Küche benahm sich Leonora ziemlich distanziert mir gegenüber und verbrachte jede arbeitsfreie Minute bei ihrem neuen Lover.
"Okay", stimmte ich zu. "Aber nur, wenn ich Sonntagabend wieder pünktlich zuhause bin"
Dann öffnete ich die Beifahrertür und stieg ein.
Sofía schaltete das Radio ein und fuhr los.
"Du kennst Salem doch noch ganz gut, oder?", fragte sie nach einiger Zeit.
"Naja, ich bin dort aufgewachsen, aber mit meiner Tante bin ich dann irgendwann aus Salem weggezogen."
Sofía nickte gedankenverloren.
"Diese Kräfte...", fing ich nach einigen Minuten leise an. "Du meintest ich besitze auch welche"
Sie nickte und sah weiterhin auf die Straße. "Aber was ist denn meine Kraft? Etwa einen Tornado in geschlossenen Räumen heraufbeschwören?", fragte ich sarkastisch und lachte. "Sehr praktisch."
Sofía schüttelte jedoch schmunzelnd den Kopf.
"Nein. Deine Kräfte sind etwas Besonderes. Sie nennen sich Elementarkräfte und sind ein wenig seltener. In etwa jeder hundertste besitzt nur solche Kräfte.", erklärte sie und warf mir einen kurzen Blick zu.
"Deine Elementarkräfte sind in dem Sinne einzigartig, dass du nicht nur über das Element Wasser, sondern auch über die Luft herrschen kannst. Allerdings wirst du das alles auch noch in der Akademie lernen."
Ich blickte auf meine Hände und versuchte diese neue Information zu verarbeiten. Elementarkräfte?! Was zum Geier?
"Aber ich kann doch nicht einfach in Salem zur Schule gehen", seufzte ich. "Selbst wenn ich wollte, würde meine Tante nie mit mir dahin ziehen. Außerdem mag ich mein Leben, wie es ist"
Sofía runzelte die Stirn.
"Tust du das?"
Ihre Frage verunsicherte mich ein wenig, was ich mir jedoch nicht anmerken ließ. Natürlich wollte ich wissen, was es mit dieser Akademie auf sich hatte. Und ich hatte mir schon immer ein Leben gewünscht, in dem ich nicht mehr auf meine Tante angewiesen war und tun und lassen konnte, was ich wollte. In dem ich sein konnte, wer ich wollte und auch wo ich wollte.
Und wenn diese ganze Sache etwas mit meinen Eltern zu tun hatte, musste ich mehr darüber herausfinden.
Andererseits konnte ich meine Tante nicht im Stich lassen und mit gerade einmal siebzehn Jahren konnte ich ja auch sowieso nicht einfach von zuhause abhauen und alleine in Salem leben.
Ich blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie Bäume und Häuser an uns vorbeizogen. Ich war gerne mit dem Auto unterwegs. Dabei ließ es sich besonders gut nachdenken. Fast so gut wie beim Schwimmen.
Ich vermisste die Zeit, in der Leonora und ich in Miami direkt am Meer gewohnt hatten und ich jeden Morgen schwimmen gehen konnte.
Doch Leonora hatte sich dort auf einen arroganten Typen eingelassen, wegen dem sie dann später wegziehen wollte.
Ich hing noch einige Zeit meinen Gedanken nach, während wir bereits die Grenze zu New York erreichten. Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, war es bereits wieder etwas heller.
"Wo sind wir?", nuschelte ich etwas verschlafen und musterte die Landschaft, die zum Großteil nur noch aus schneebedeckten Wäldern bestand.
"Wir sind fast da", antwortete Sofía lächelnd. "Gut, dass du wach bist."
Ich erwiderte ihr Lächeln halbherzig, da es mir immer noch schwerfiel dieses ganze Zeug zu glauben und ich mich langsam fragte, worauf ich mich hier eingelassen hatte. Doch ich hatte mich ja mit eigenen Augen davon überzeugen können, dass Sofía mir bezüglich der Magie die Wahrheit gesagt hatte.
Ein ungutes Gefühl hatte ich bei der ganzen Sache trotzdem.
Während ich mein Handy herauskramte, um zu überprüfen, ob meine Tante mir geschrieben hatte, fiel mein Blick auf eine Art Talisman, der aus dem Handschuhfach heraushing. Er schimmerte in einem hellen Silber und es war eine winzige Feder darauf eingraviert.
"Wow. Der ist wirklich schön", murmelte ich.
Sofía schmunzelte. "Danke. Ich habe ihn selbst gemacht. Er steht für die Weisheit meiner Fraktion", erklärte sie.
"Deiner Fraktion an der Akademie?", fragte ich nach.
"Genau. Die Fraktion, in die du eingeteilt wirst, spiegelt deine Wesenszüge wieder, dein Innerstes. Und daher gehöre ich zu der Fraktion der Metis.
Die Metis stehen für Weisheit, kluge und weitsichtige Entscheidungen und einen scharfen Verstand."
Ich nickte und hörte ihr aufmerksam zu, während Sofía weiter erklärte.
"Dann gibt es noch die Eunomia.
Ihnen ist Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit besonders wichtig. Die meisten von ihnen sind extrem loyale und herzliche Menschen.
Die Artemis hingegen können auch mal etwas aufbrausend und impulsiv
sein. In diese Fraktion kommen nämlich alle Kämpfer. Dafür sind sie aber auch die mutigsten.
Und die vierte Fraktion..."
Sie seufzte und blickte konzentriert auf die Straße.
"Nun ja, das ist etwas kompliziert. Ich will nicht sagen, dass die Nyx schlechter sind als wir anderen... Aber du musst wissen, dass es früher bloß drei Fraktionen an der Akademie gab. Die Nyx waren jahrelang nur eine Gruppe von Leuten, die in keine der Fraktionen passten und daher nicht an der Akademie angenommen wurden - meist mit außergewöhnlich starken Kräften. Viele von ihnen können ziemlich berechnend sein. Aber nicht alle von denen sind schlecht. Ihre Absichten sind nur leider oft undurchschaubar. Alles in allem sind sie Idealisten, die sich selbst stark von den anderen Fraktionen absondern."
Nachdenklich musterte ich den Talisman.
"Und was denkst du, welcher Fraktion ich angehören würde?", wollte ich wissen.
Sofía warf mir jedoch nur ein geheimnisvolles Lächeln zu.
"Wie gesagt: Ich denke, du wirst deinen Platz finden"
Ich wollte gerade erwidern, dass ich nicht davon ausging, dass ich überhaupt auf diese Akademie gehen würde - selbst wenn das alles stimmte und dort mein rechtmäßiger Platz war.
Doch da wurde ich von meinem Klingelton unterbrochen, der mir ankündigte, dass ich eine neue Nachricht erhalten hatte.
Ich entsperrte mein Handy und öffnete WhatsApp.
Musste schon früh los. Habe heute Spätdienst. Sehen uns dann wohl erst morgen früh. Wie war das Rugby Match? xx Leonora
Meine Tante ging mir also immer noch aus dem Weg. Anscheinend hatte sie das mit dem Sturm in unserer Küche aber schon halbwegs verkraftet - vielleicht sogar besser als ich. Denn immerhin hatte sie nachgefragt, wie das Spiel war.
Leonora war meist so beschäftigt damit, ihr eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen, dass man schon Glück haben musste, wenn sie einem mal wirklich zuhörte.
Ich tippte schnell eine Antwort ein und hoffte, dass es wirklich bei dem Spätdienst von Leonora bleiben würde. Denn wie zum Teufel sollte ich meiner Tante den Kurztrip nach Salem erklären?
Als ich den Blick von meinem Handy hob, sah ich, dass wir bereits unseren Zielort erreicht hatten.
Ich war ewig nicht mehr in meiner Geburtsstadt gewesen und doch erkannte ich sofort einige Straßen und Plätze aus meiner Kindheit wieder. Ich lächelte in mich hinein, als wir am Hexenhaus von Salem vorbeifuhren. Schon als ich klein gewesen war, hatte ich mich sehr für die mysteriöse Vergangenheit der Stadt interessiert. Auch in der Grundschule wurde uns viel von den Hexenprozessen erzählt. Einer der bekanntesten daran beteiligten Richter war Jonathan Corwin gewesen - der frühere Bewohner des Hexenhauses.
Plötzlich stutzte ich.
"Das mit den magischen Kräften und so...", fragte ich etwas verunsichert. "Hat das etwas mit den früheren Hexenprozessen zu tun?"
Sofía lächelte.
"Tja, uns gab es hier schon lange. Aber ich denke eher, dass die, die als Hexen angeklagt worden sind, keinen blassen Schimmer von Magie hatten.
Die wenigsten von uns leben in der Oberwelt. Du gehörst also zu einer der Ausnahmen", fügte sie dann hinzu.
Ich hob die Augenbrauen.
"Oberwelt?"
Sofía lachte. "Das erkläre ich dir gleich.
Tut mir leid. Ich vergesse manchmal, dass du mit so vielem, was für mich alltäglich ist, überhaupt nicht vertraut bist."
Sie hielt den Wagen an und zog den Schlüssel.
"Also dann. Bist du bereit die Akademie zu sehen?", fragte sie, während sie bereits die Fahrertür öffnete.
Die ganze Situation wirkte in diesem Moment so absurd auf mich, dass ich mir nicht annähernd hätte vorstellen können, dass es noch viel verrückter werden würde...
Ich schnallte mich ab und atmete einmal tief durch, ehe ich nickte.
"Bereit."

Academy of Salem Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt