10. Kapitel

3.4K 151 5
                                    

Als ich die Treppen hinunter ins Erdgeschoss lief, fragte ich mich, ab wie viel Uhr der Unterricht nochmal begann und ob ich es vorher überhaupt noch schaffen würde, zu frühstücken.
Als ich im Speisesaal nach einem bekannten Gesicht Ausschau hielt, stach mir Shadow ins Auge, der sich gerade mit Damien unterhielt. Es schien, als würden sich die beiden blendend verstehen.
Kopfschüttelnd dachte ich an die gestrige Begegnung mit den beiden.
Wahrscheinlich waren die Nyx einfach so undurchschaubar, wie man es ihnen laut Sofía nachsagte.
"Hey Aline!", riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Eve winkte mir fröhlich zu. "Setz dich doch zu uns"
Ich lächelte und lief zu ihr herüber.
"Jungs, das ist Aline, meine Zimmermitbewohnerin.", erklärte sie und wandte sich dann an mich.
"Aline, das da sind Argon und Kilian."
"Hi", murmelte ich und ließ mich neben Eve nieder.
Der Junge, der mir gegenüber saß und den Eve gerade als Kilian vorgestellt hatte, hatte lockiges, hellbraunes Haar und braune Augen, die etwas Verlässliches ausstrahlten.
Den anderen hatte ich gestern schon einmal gesehen. Argon war der Sohn der Herrscherin von Salem, den alle bei der Zeremonie so angestarrt hatten. Mir fiel auf, dass auch jetzt einige Blicke auf ihm lagen.
"Freut mich, Aline", sagte Argon und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
"Du bist nicht aus Salem, oder?", fragte er dann. "Ich habe dich zumindest noch nie gesehen. Wenn doch, wärst du mir bestimmt aufgefallen"
"Ähm, danke?" Ich lächelte. "Aber ich bin wirklich nicht von hier. Also genau genommen bin ich nicht einmal aus der Unterwelt.", erklärte ich, während ich mir einen Berg aus Rührei auf den Teller schaufelte.
"Echt jetzt?", fragte Eve überrascht. "Das ist ja voll cool!"
Auch Kilian musterte mich interessiert. "Das heißt, du bist in der Oberwelt aufgewachsen? Wie ist es da so?"
Nachdem ich so gut wie möglich versucht hatte, die Fragen meiner drei neuen Mitschüler zu beantworten, machte ich mich daran, mein Frühstück zu verputzen.
Eve und die beiden Jungs unterhielten sich währenddessen über Personen und Orte, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte.
Doch anstatt ihnen zuzuhören, ließ ich meinen Blick über die anderen Schüler wandern. Etwas entfernt sah ich Sofía mit ein paar anderen Mädchen sitzen. Auf der anderen Seite des Raumes saßen die Lehrer etwas abseits an einem der Tische. Harry unterhielt sich angeregt mit der Leiterin der Artemis, während Professor Jones die anderen Lehrer zu ignorieren schien.
Wenige Minuten später erhob sich Harry und begann Stundenpläne und verschiedenfarbige Sweatjacken an die neuen Schüler zu verteilen. Die Jacken hatte ich bereits bei fast allen älteren Schülern gesehen. Anscheinend kennzeichneten sie die Zugehörigkeit zu einer der Fraktionen - grün für die Eunomia, weiß für die Metis, schwarz für die Nyx und rot für die Artemis. Als Harry mir meine Jacke reichte, fiel mir auf, dass sowohl auf dem Rücken als auch auf Brusthöhe eine weiße Flamme aufgedruckt war.
"Mann, bin ich froh, dass ich keine Metis geworden bin", murmelte Eve. "Weiß macht mich immer so blass!"
"Außerdem wärst du dann bestimmt eine Langweilerin geworden", erwiderte Argon grinsend. "Glaub mir, bei den Artemis hat man am meisten Spaß", fügte er hinzu und zwinkerte mir zu.
"Stimmt.", grinste Eve. "Aline und ich müssen uns ja auch noch einen Plan ausdenken, um einen der Nyx zu ärgern."
"Also da bin ich dabei!", versicherte Argon.
Auf dem Weg zu den Klassenräumen erfuhr ich, dass Argon und Kilian sich schon seit ihrer Kindheit kannten und dass auch Eve hier in Salem aufgewachsen war. Anscheinend würde Argon wirklich der nächste Herrscher von Salem werden und ich sah ihm an, wie sehr er den ganzen Druck, der dadurch auf ihm lag, zu überspielen versuchte, indem er sich betont selbstbewusst gab.
Wir waren die letzten, die den Klassenraum betraten und wurden von Professor Morgan mit einem strengen Blick bedacht.
Mit ihren dunkelblonden, superglatten Haaren, die ihr etwa bis zum Kinn reichten und ihrem autoritären Auftreten erinnerte sie mich an meine frühere Grundschullehrerin. Fehlte nur noch die Brille, die diese immer zu weit vorne auf der Nasenspitze getragen hatte.
Ich kicherte und setzte mich neben Eve auf den letzten übrig gebliebenen Platz.
"Schön, dass nun auch die Letzten von euch eingetrudelt sind", sagte Professor Morgan mit einem vorwurfsvollen Unterton und warf Argon und Kilian, die eine Reihe hinter uns Platz genommen hatten, einen genervten Blick zu.
"Nun, dann.", fing sie an. "Willkommen zu den Kampfkünsten. Das hier ist eines der Fächer, die ihr nur mit anderen Artemis habt. Die meisten anderen Fächer werden - wie ihr sicher wisst - fraktionsübergreifend unterrichtet. Wer auf seinem Stundenplan das Fach 'Elementar-Training' stehen hat, kommt nach der Stunde zu mir."
Ich ließ meinen Blick über meinen Stundenplan wandern und fand dort tatsächlich zweimal den Begriff 'Elementar-Training'.
"In diesem Unterricht werdet ihr euch mit einigem Theoretischen auseinandersetzen müssen. Es ist allerdings unabdingbar, dass ihr das tut.", fuhr Professor Morgan fort. "Zuerst einmal werdet ihr verschiedene Kampftechniken und Strategien kennenlernen."
Sie erhob sich und nahm vom Lehrerpult einen Stapel Bücher.
Während sie diese zu verteilen begann, beugte sich Eve zu mir herüber.
"Das klingt irgendwie öde", beschwerte sie sich flüsternd.
"Ich kann das Kampftraining kaum erwarten. Das wird bestimmt echt spaßig"
Ich grinste. "Lass das nur nicht Professor Morgan hören. Die greift dich dann mit einer ihrer Kampftechniken an, wenn sie hört, dass du ihr Fach öde nennst."
Eve kicherte.
"Tut sie wahrscheinlich sowieso, wenn wir noch einmal zu spät kommen"
Als Professor Morgan zu uns kam, verstummte sie schnell.
Beim Überreichen der Bücher, warf die Leiterin der Artemis mir einen eigenartigen Blick zu.
Verwundert musterte ich sie, während sie zurück zum Lehrerpult lief.
Während des Unterrichts hörte ich Professor Morgan die meiste Zeit über nur mit halbem Ohr zu und überlegte stattdessen, was Sofía wohl herausgefunden hatte. Ich hatte immer noch keine Gelegenheit gefunden, sie auf meinen Vater anzusprechen. Im Auto hatte sie dazu bloß gesagt, ich solle es mit eigenen Augen sehen. Doch ich würde mich wohl noch bis nach dem Unterricht gedulden müssen.

Auf dem Weg zu dem Klassenraum, in dem wir 'Heilkunde' hatten, schlenderte Shadow zu mir herüber.
Ein arrogantes Grinsen umspielte seine Lippen.
"Wow, du hast dir für den Unterricht ja sogar extra was angezogen", bemerkte er gespielt überrascht.
"Halt die Klappe", zischte ich.
"Oder was?", fragte Shadow amüsiert und hob eine Augenbraue.
Ich warf ihm einen bösen Blick zu und ärgerte mich darüber, dass mir kein guter Konter einfiel.
"Na, dann. Man sieht sich", erwiderte er und lief an mir vorbei in einen der Klassenräume.
Da Eve und die beiden Jungs diesen Kurs nicht mit mir gemeinsam hatten, blickte ich mich suchend nach einem Platz im Klassenzimmer für Heilkunde um.
Da stach mir Lucas ins Auge, der sich gerade mit einem Jungen zu seiner rechten unterhielt und auf dessen linker Seite noch ein Platz frei war.
Als er mich bemerkte, nickte er mir grinsend zu.
"Hey, Aline. Schön dich wiederzusehen"
Ich schmunzelte. "Kann ich nur zurückgeben. Sonst hätte ich nämlich echt nicht gewusst, neben wen ich mich in diesem Kurs setzen soll."
Ich war wohl gerade noch pünktlich gekommen, denn nun öffnete sich die Zimmertür erneut und die ältere Schulleiterin mit dem strengen, silbergrauen Haarknoten betrat das Klassenzimmer. Sie musste wohl die Leiterin der Eunomia sein, denn an ihrer weißen Bluse war eine Ansteckbrosche in Form einer bronzefarbenen Waagschale befestigt.
"Guten Morgen", begrüßte sie uns mit fester Stimme und ließ ihren Blick über den Kurs schweifen. "Mein Name ist Professor Rutherford, wie die meisten von euch bereits wissen.
Heilkunde ist eine der wichtigsten Praktiken für viele verschiedene Berufe - und doch wird von euch Schülern meist der Fokus ausschließlich aufs Kämpfen gelegt.
Daran möchte ich zuerst einmal mit euch arbeiten"
Während sie das weitere Vorgehen erläuterte und die Schüler aufzählen ließ, wofür Heilkunde nützlich sein konnte und inwiefern sie sich damit auskannten, fiel mein Blick auf den braunhaarigen Typ in Lederjacke, der vor mir Platz genommen hatte.
Wenn ich mich nicht irrte, handelte es sich dabei um Damien, den Nyx, der mich gestern so angeschnauzt hatte.
"Hast du mit dem auch schon Bekanntschaft gemacht?", fragte ich Lucas leise und deutete mit einem Kopfnicken auf Damien.
Lucas schüttelte den Kopf. "Ist der so bedrohlich, wie er aussieht?", flüsterte er zurück.
"Das wird sich noch zeigen", mutmaßte ich und hoffte im Stillen, dass es beim Kampftraining jemanden gab, der ihn in Schach halten konnte. Denn das hatte er eindeutig verdient.
"Es wäre schön, wenn ihr beide auch zuhört", wandte sich Professor Rutherford streng an uns.
"Lucas. Wie wäre es, wenn du mal nach vorne kommst und dir jemanden suchst, mit dem du das demonstrierst, was ich euch eben erklärt habe"
Da es weniger nach einer Frage als nach einer Anweisung klang, erhob sich Lucas von seinem Platz und ging nach vorne. Schuldbewusst blickte ich ihm hinterher.
Zu meiner Überraschung schien es Lucas jedoch keineswegs unangenehm zu finden, vor der Klasse vorgeführt zu werden.
"Damien. Du würdest mir doch sicher gerne assistieren", sagte er grinsend und blickte ihm dabei fest in die Augen.
Ich sah mit Genugtuung dabei zu, wie sich Damien mit einem genervten Schnauben neben Lucas stellte.
"Also dann, Lucas. Zeig uns doch einmal, was du von der Heilpraktik des Kräftebündelns verstehst.", forderte Professor Rutherford.
"Bei dem Kräftebündeln werden zwei Personen miteinander verbunden. Es kann hilfreich sein, um nachzuvollziehen, was eine Person fühlt und auch, um ihr den Schmerz zu nehmen oder kleiner Verletzungen sozusagen von innen heraus zu behandeln", sprudelte es aus Lucas hervor und ich fragte mich, woher er das alles wusste.
"Korrekt", antwortete Professor Rutherford wenig beeindruckt. "Dann kannst du diese Technik ja gleich mal bei Damien anwenden. Da du es für angebracht hältst, meinen Unterricht zu stören, gehe ich davon aus, dass du bereits alles kannst, was ich bis eben erklärt habe"
Lucas blickte ein wenig verunsichert, nickte jedoch.
Professor Rutherford legte Damien eine Hand auf die Schulter, woraufhin dieser schlagartig blasser wurde.
Schockiert fragte ich mich, was sie mit ihm gemacht hatte. Hatte sie ihm etwa eine Verletzung oder Schmerzen zugefügt? Was waren das bitte für Lernmethoden?
Lucas räusperte sich und trat nah hinter Damien, um ihm ebenfalls eine Hand auf die Schulter zu legen.
Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen und schien sich zu konzentrieren. Als er die Augen wieder öffnete, breitete sich von der Stelle aus, an der er Damien berührte, ein sanftes Leuchten aus, welches nach und nach Damiens normale Gesichtsfarbe zurückbrachte.
Lucas grinste siegessicher und flüsterte Damien etwas zu, woraufhin dieser wütend die Augen verengte. Doch er rührte sich nicht vom Platz, denn selbst er schien Professor Rutherford nicht verärgern zu wollen.
"Nicht schlecht", Professor Rutherford musterte Lucas. "Kannst du mir denn auch erklären, was du da gerade geheilt hast?"
Lucas überlegte kurz und antwortete dann: "Sie haben ihn unterkühlen lassen."

Academy of Salem Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt