PROLOG

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Das Matratzenlager der Jungs war ein einzelner unübersichtlich großer Saal, in dem entlang der Wände um die zwanzig Schlafplätze verteilt waren. An jedem Fußende lag, ordentlich zusammengefaltet, die gleiche potthässliche, senfgelbe Decke. Auf jedem der blauen Leintücher, die die Matratzen bedeckten, lag ein weißes Kissen. Die Farbstellung war nichts fürs Auge sondern orientierte sich an purer Zweckmäßigkeit.
Dafür entschädigte der Ausblick aus den Fenstern der Skihütte. Schneebedeckte Gipfel reflektierten die Sonne wie glitzernde Diamanten, soweit das Auge reichte. Zu unseren Füßen dehnte sich ein zugefrorener See aus, der hellblau wie ein zweiter Himmel in der frostigen Wintersonne auf den Frühling wartete. Er war von dem gleichen zarten Farbton wie das Buch, das mein Stiefbruder in seinen feingliedrigen Händen hielt.

Der breite Umriss des Siebzehnjährigen verdeckte das Fenster und die dahinterliegende Aussicht. Doch ich hatte ohnehin nur Augen für das in hellblauen Stoff gebundene Buch. Keine Sekunde wendete ich den Blick davon ab und sprang wieselflink über die Matratzen, die mich von Davis trennten. Wie ein Äffchen klammerte ich mich von hinten an ihn und versuchte, ihm den Arm zu verdrehen.

„Runter von mir, du Hexe!", schnauzte er mich an und aalte sich nach rechts und links, um mich abzuschütteln. Beherzt krallte ich meine schwarz lackierten Nägel in die Haut über seinem Schlüsselbein, bis er vor Schmerz aufjaulte. Mit der zweiten Hand angelte ich nach meinem heißgeliebten Tagebuch.
„Davis, verdammt! Gib es her!", fauchte ich und hörte meine Stimme ins Verzweifelte kippen. Einer Eingebung folgend stützte ich mich auf der breiten Schulter des Dunkelhaarigen ab, um höher zu springen. Dennoch blieb mein größter Schatz in seinen ellenlangen Armen haarscharf außerhalb meiner Reichweite. Warum war er so ein Schrank und ich nur ein Fähnchen im Wind?

In gleichem Maße, in dem ich erpicht war, mir zurückzuholen, was mir gehörte, bemühte sich Davis, mich abzuwerfen. Er bewegte sich rückwärts und lange bevor ich realisierte, was der Idiot plante, knallte ich mit dem Rücken gegen die Wand hinter uns. Mit einem dumpfen Geräusch donnerte mein Hinterkopf an die Holztäfelung. Sämtliche Luft verließ ächzend meine Lunge. Mein eiserner Griff um Davis Schulter lockerte sich und einen Herzschlag später klatschte ich mit dem Hinterteil voraus auf den Boden. Der Schmerz, der sich aus verschiedenen Richtungen durch meinen Körper ausbreitete, war kaum zu ignorieren. Woher ich dennoch die Kraft nahm, mich hochzurappeln, blieb mir selbst schleierhaft.

„Davis! Los! Gib es her!", forderte ich erneut und rammte Davis von hinten, in der Hoffnung, ihn unter Einsatz meines ganzen Gewichtes zu Fall zu bringen. Davis lachte über meinen Versuch nur spöttisch.
„Sonst was? Willst du mich verhexen, Anna?"
Hinter uns kicherten einige Klassenkameraden, die sich im Schlafraum eingefunden hatten und uns im Halbkreis umstanden. Wenn Davis und ich aneinandergerieten, war das immer ein Spektakel, das niemand freiwillig verpasste. Mir war inzwischen egal, ob sie lachten, weil der dunkelhaarige Mistkerl mich wegen meiner roten Haare mal wieder wenig kreativ zur Hexe degradierte. Seine Beleidigungen waren im Moment das kleinere Übel verglichen damit, dass der Idiot mein Tagebuch gestohlen hatte.
Mein halbes Leben lag in seinen Händen, die mich grob auf Abstand hielten, und war nur durch ein winziges Schloss vor ihm geschützt. Vor ihm und den Schaulustigen, die immer zahlreicher wurden und zu denen sich nach und nach mehr Mädchen gesellten. Davis liebte es, andere zu verspotten. Das war ein offenes Geheimnis. Was immer er plante, versprach für die, die nicht in seinem Fokus standen, tierisch spaßig zu werden und für mich unterirdisch peinlich.

Das winzige goldene Schloss war nichts mehr wert, nachdem Davis den Riemen, an dem es befestigt war, aus der Rückseite des Buches riss. Es fiel mit metallischem Klirren zu Boden. Dort blieb es zusammen mit dem hellblauen Band liegen. Automatisch fuhr ich mit der Hand an meinen Hals. Unter dem runden Saum des Ausschnittes ertastete ich einen kleinen Schlüssel an einer dünnen Silberkette. Über zwei Jahre hatte ich mich in künstlicher Sicherheit gewiegt. Erst in diesem Moment begriff ich, dass das Schloss keinen Schutz darstellte und wie naiv es war, es jemals anzunehmen.
Still verfluchte ich mich, mein Tagebuch mit ins Skilager genommen zu haben. Tränen schossen mir in die Augen, als ich Davis dabei beobachtete, wie dieser aufs Geratewohl eine Seite aufschlug. Ein boshaftes Grinsen lag um seinen Mund. Seine Blick huschte über meine saubere Schrift. Sein Teint wurde ein wenig blasser, sein Lächeln starr.

„Du bist ja total bescheuert!", kommentierte er, was er gelesen hatte. Mir warf er einen äußert finsteren Blick zu, der den anderen entging. Mich packte ein leichter Schwindel. Davis blätterte weiter, ohne sich um mein rasendes Herz zu scheren. Dabei schlug es dröhnend laut. Ich war überzeugt, jeder in meiner Nähe hörte es. Die Augen meines Stiefbruders weiteten sich. Ungläubig sah er mich an. Seine dunkle Iris bohrte sich in meine blaugrüne.
„Das hier ist gleich noch besser. Wollt ihr das hören?" Sein Tonfall klang, als würde er fragen: „Wollen wir den Kasperle rufen?"
Brav antworteten alle: „Jaaaaaa! Vorlesen!"
Wie im Kindergarten, stellte ich bestürzt fest. Meine Mitschüler, jeder im sechzehnten Lebensjahr oder älter, verwandelten sich vor meinen Augen in Kleinkinder.

Jaulend stürzte ich mich auf Davis, um dem Zauber ein Ende zu setzen. Die Jungs, die ihn beim Football üblicherweise rammten, waren doppelt so breit wie ich und hatten eineinhalbmal meine Größe. Davis stand aufrecht wie eine Wand. Ich hingegen rieb meine schmerzende Schulter.
„Vorlesen!", riefen einige Jungs und intonierten einen wahren Sprechchor. „Vor-le-sen! Vor-le-sen! Vor-le-sen!", brüllten sie und immer mehr Anwesende fielen in den fordernden Singsang ein.
Davis hob die Hand. Mit einem lauten „Ruhe", verschaffte er sich Gehör. Mein Magen hob sich kurz wie in der Achterbahn, bevor sich eine Welle der Übelkeit in mir ausbreitete. Alle meine Wünsche, meine Träume, meine Hoffnungen entfalteten sich vor seinen Augen und er würde sie brutal ans Tageslicht zerren. Gnade kannte er nicht. Ich war dazu verdammt, zuzusehen, wie die Katastrophe ihren Lauf nahm. Er verstellte seine Stimme, bis sie hoch klang wie bei einem Mädchen. Bei jedem anderen hätte die Fistelstimme albern geklungen, aber die Zuschauer aus unserem Jahrgang fanden es bei Davis lustig und cooler als die Antarktis. Er war das leuchtende Vorbild für die Jungs aus unserer Schule und der Beweis, dass es ausreichte, sich maximal arschig zu benehmen, um beliebt zu werden. Oder gefürchtet? Bei Davis verschwamm die Grenze mal in die eine und dann in die andere Richtung.
„Er sieht aus wie ein Engel, besitzt aber die Seele eines Teufels. Dennoch kann ich nichts besseres tun, als zu hoffen."
Davis verzog höhnisch den Mund und die Zuhörer johlten über meine vermeintliche Schwärmerei.

Die auf diesen Satz folgenden Worte hörte ich über meinen rasenden Herzschlag hinweg nicht mehr. Aber mir war ohnehin klar, was dort schwarz auf weiß stand:
„Ich wünschte, mein Stiefbruder könnte mich nur ein bisschen mögen."
Dieser Wunsch war unerfüllbar. Das kapierte ich, als sich Davis' Lippen erneut zu einem boshaften Grinsen verzogen.
„Wie könnte ich eine Asoziale wie dich jemals mögen, Anna? Du bist eine Zecke. Genau wie deine Mum. Ein Schmarotzer! Und du wirst Doris nie ersetzen können."
Seine Worte schnitten tief in mein Herz. Wie Gift breitete sich die schmerzliche Wahrheit in meinem ganzen Körper aus und ließ mich taub und hilflos zurück. Eine Zecke. Seiner Zuneigung unwürdig. Tränen sammelten sich in meinen Augen und die Welt um mich herum verschwamm. Konturen verwischten sich und dann fiel der erste salzige Tropfen auf mein Schlüsselbein, der nächste auf meine nackten Füße. Das kalte Gefühl war ein Startschuss. Abgelenkt durch meine auf Papier gebannten Worte, hatte Davis das Buch sinken lassen. Diese Gunst des Augenblicks nutzte ich und riss Davis meinen Schatz aus der Hand. Auf der Stelle machte ich kehrt, dränglte mich durch die Zuschauer. Blind dafür, wen ich anrempelte, bahnte ich mir einen Weg aus dem Schlafsaal und rannte den Weg zurück zum Mädchenzimmer.

„Anna, verdammt! Warte! Ich bin noch nicht fertig mit dir!"
„Lass mich in Ruhe!", wollte ich schreien, aber meine Kehle war zugeschnürt.
„Anna! Bleib stehen! Anna! Die Treppe!"

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt