ZWEI

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Der Start in den nächsten Morgen geriet zur Katastrophe. Weil ich erst lange nach Stella ins dunkle Zimmer kam, hatte ich keine genaue Vorstellung, wo ich die Brille in der Nacht abgelegt hatte. Ohne Hilfe meine Brille zu finden, grenzte an eine Herkulesaufgabe, der mein verpenntes Gehirn nicht gewachsen war. Dem Heulen nahe, ertastete ich sie auf dem Fenstersims neben dem Bett. In dem Augenblick, in dem ich sie berührte, erinnerte ich mich wieder genau, wie ich sie nachts dort abgelegt hatte, bevor ich mich unter die Decke kuschelte.

Ordnung, Anna!

Ein Blick auf den Wecker, dessen Leuchtziffern ich durch die dicken Gläser endlich klar sah, macht mir deutlich, dass die Tatsache, dass meine Augen von ungeweinten Tränen gerötet waren und brannten, mein kleinstes Problem war.
Bis zur Vorlesung blieb mir keine Viertelstunde! Mehr als eine Instantdusche aus der Deodose war nicht drin, bevor ich mich in eine dunkelblaue Jeans und eine beige Bluse quetschte, über die ich eine hellblaue Strickjacke zog. Meine Haare verweigerten heute schon aus Prinzip die Kooperation mit der Bürste und schulterzuckend kapitulierte ich nach einem eher halbherzigen Versuch, sie zu bändigen. Bei meinen wirren roten Locken bemerkte ohnehin selten jemand einen Unterschied, ob ich probiert hatte, sie zu bürsten oder nicht. Schon gar nicht bei dem Nieselregen draußen. Luftfeuchte war der Tod jeder meiner Frisuren.

Eilig raffte ich zusammen, was ich für den Tag brauchte: Lageplan, Stundentafel, Rucksack mit Schreibsachen. Dann sprang ich in meine geliebten hundert Mal gewaschnen Chucks und rannte los. Die Treppe runter, durchs Foyer, über die Wiese zum rechten Gebäude. Oder war es das Linke? Mann, wozu hatte ich mir den Weg gestern eingeprägt, wenn ich vierzehn Stunden später keinen Schimmer mehr hatte?

Belustigt beobachtete eine Gruppe rauchender Studenten, wie ich erst unschlüssig zwei Schritte nach links, dann nach rechts unternahm. Gott, ich hasste Menschen manchmal. Vor allem solche, die sich wie Herdentiere mit ihren Artverwandten zu homogenen Gruppen zusammenrotteten. Da gab es die Gutaussehenden, die Talentierten, die Klugen, die Arschlöcher, die Begabten, die Sportlichen und die Coolen. Dann noch die Schnittmenge der Grüppchen: die Beliebten. Zu denen gehörten die zwei Handvoll Leute, die da zusammenstanden und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten. Das sah man schon an ihrem Auftreten, der Haltung und dem Selbstvertrauen, das ihnen aus jeder Pore sickerte, während sie lachend den Rauch ihrer Zigaretten in die Luft pusteten. Einer von ihnen stach selbst aus der Gruppe hervor. Das zu erkennen war Teil des von mir gebuchten Überlebenspaketes. Ich nannte dieses untrügliche Bauchgefühl den Davis-Alarm. Den Davis einer Gruppe identifizierte ich immer sofort. Egal, in welcher Verpackung er daherkam, ob blond, schwarzhaarig oder in diesem Falle mit hellbraunen Wuschelhaaren und hellen Augen, deren Farbe ich aus der Entfernung nicht erkannte. Der Davis war wie der Generalschlüssel für ein Schloss. Er passte in jede Gruppe, fiel immer auf und man respektierte ihn innerhalb der Grüppchen. Außenstehende hassten ihn oder kultivierten einen brennenden Neid auf ihn. Er war das Pendant zu einem Alfa-Tier und mein Leben lang hatte ich solche Typen konsequent gemieden.

Meine erprobte Vermeidungsstrategie hatte mir in meiner frühen Jugend einen Haufen Ärger erspart. Bis meine Mutter mich mit einem solchen Leittier unter ein Dach sperrte und mir weismachte, er könne mich mögen. Ich müsse nur genug Geduld aufbringen, sein eiskaltes Herz aufzutauen. Ihm Zeit geben, mich kennenzulernen. Sie hatte mir meinen Stiefbruder als zahmes Kaninchen verkauft, aber bekommen hatte ich eine bissige Ratte.
Erst als sich eine dunkle Braue in einem kantigen Gesicht hob, bemerkte ich, dass ich den Kerl mit den auffällig hellen Augen angestarrt hatte. Vermutlich nur Sekunden, erwischt hatte er mich trotzdem. Peinlich.
Ein mutigeres Mädchen wäre sicherlich zu dem Grüppchen hinübergeschlendert und hätte nach dem Weg gefragt. Ich hingegen wendete schnell meine Augen ab.
Lageplan, Anna. Du hast einen Lageplan. Du brauchst diese Leute nicht, um durchs Leben zu kommen.
Gestresst versuchte ich mir einen Reim auf die Linien und die winzige Schrift zu machen, auf die ich hinunterblickte. Die Studentengruppe in meiner Nähe amüsierte sich derweil über mich. Die im Kreis Stehenden stupsten sich gegenseitig an, damit jeder sah, dass die Brillenschlange zu blöd war, einen verfickten Plan zu lesen. Ich hasste sie. Jeden von ihnen. Voller Inbrunst.
Zugegeben, mein Wortschatz, passte nicht zu dem Idealbild, das Davis von einem Mädchen hatte. Das hatte Davis mir in den ersten Wochen, die ich mit Mum bei ihm und seinem Dad gewohnt hatte, deutlich vermittelt. Gänsehaut breitete sich bei dem Gedanken an Davis' harten Griff um mein Handgelenk über meinem gesamten Körper aus und gedankenverloren rieb ich meinen Unterarm. Mit Mühe konzentrierte ich mich wieder und entzifferte die winzigen Buchstaben auf dem Plan.

Links. Alles klar. Den Blick der Studentengruppe im Nacken rannte ich die Stufen des ziegelroten Backsteinbaus hoch, in dem der Hörsaal untergebracht war.
Dass die besten Plätze für die Einführungsveranstaltung bei meiner Verspätung schon weg waren, damit hatte ich gerechnet. Allerdings nicht mit einem gesteckt vollen Raum, aus dem mir der Lärm einer Bahnhofshalle entgegenschlug. Nur mit Mühe war es möglich, eine verschwindend geringe Zahl an freien Plätzen auszumachen. Bei einer Größe von knapp mehr als einem Meter und sechzig verlor ich in Menschenmengen leicht den Überblick.

Hoffnungsvoll ließ ich meinen Blick schweifen. Dort. In der fünften oder sechsten Reihe!
Sofort setzte ich mich in Bewegung. Während ich mich an den Sitzenden vorbei drängte, hatte ich das unangenehme Gefühl, zu spät zu einer Kinovorstellung einzutreffen. Den Kopf gesenkt, murmelte ich eine Entschuldigung nach der anderen und achtete penibel darauf, nicht schon am ersten Tag jedem buchstäblich auf die Füße zu steigen.
Als ich den freien Platz erreichte, fiel ich vom rechten Glauben ab. Ein Typ klappte soeben die Sitzfläche runter und setzte sich. Triumphierend musterte mich der Fremde aus seinen auffällig hellen Augen. Aus der Nähe erkannte ich, dass seine Iris rauchgrau war. Wie die Schwaden, die sich kräuselten, wenn man ein Feuer mit Wasser löschte. Und er kannte offenbar eine Abkürzung.
Ein Blick an ihm vorbei über die Reihe der dort Sitzenden erklärte ohne Raum für Zweifel, auf welchem Wege er mich ausgestochen hatte: Der eine oder andere rieb sich auffällig das Schienbein, weil dieser grinsende Idiot rücksichtslos durch die Reihe gepflügt war. Ein Davis durch und durch.

„Kannst dich gerne auf meinen Schoß setzen, Baby", bot mir der Fremde anzüglich an und legte sein Tablet auf den Tisch vor sich. Hitze stieg in mein Gesicht. Vor Verärgerung.
Nicht etwa, weil mich allein die Vorstellung, mich auf den Schoß eines gutaussehenden Studenten zu setzen, völlig aus dem Konzept brachte. Sprachlos starrte ich in die Augen des Fremden, die zu seiner ebenfalls rauchigen Stimme und dem leichten Geruch nach Zigaretten passen, unter den sich ein anderer Duft mischt, den ich nicht einordnen konnte.
„Wenn die Lady mit dem roten Haar sich einen freien Sitzplatz suchen würde, dann könnten wir mit der Veranstaltung beginnen!", erklang eine Stimme laut und deutlich durch die an den Saalwänden angebrachten Lautsprecher.
Nach meinem Gesicht färbte sich mein Dekolleté in einem ungesunden Rotton. Kurz sah ich über meine Schulter. Umdrehen in der engen Sitzreihe war ausgeschlossen, ohne dabei meinen Rucksack dem frechen Studenten ins Gesicht zu drücken. Gleichzeitig bedeutete es, mich an dem gutaussehen Typen mit den fein gemeißelten Zügen vorbeizuschlängeln. Dabei streifte ich sein Knie, was die Situation für mich kein Stückchen verbesserte.
Ein freundliches, dunkelhaariges Mädchen winkte mich zum Glück zu einem freien Platz und eine halbe Stunde nach dem Aufstehen erschöpft bis in die Knochen, sank ich neben ihr nieder.
„Typisch Ian! Er muss immer den Arsch raushängen lassen!", bemerkte sie schmunzelnd.
„Ich bin übrigens Felicity!", stellte sie sich dann vor und hielt mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen, die ich zurückhaltend schüttelte.

Nach Beginn der Vorlesung warf ich einen vorsichtigen Blick zu diesem Ian, der mir den Sitzplatz weggeschnappt hatte, und prägte mir seine Statur und sein Profil so genau wie möglich ein. Bei ihm schrillte mein Arschlochalarm sogar geringfügig lauter als bei Davis. Im Gegensatz zu Letzterem standen bei Ian die Chancen besser, ihm aus dem Weg zu gehen, denn glücklicherweise wohnten wir nicht zusammen.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt