FÜNFUNDFÜNFZIG

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Die Stille um uns dehnte sich. Nichts war zu hören, außer diesen Geräuschen, die ein belebtes Haus kennzeichneten. Das Knacksen von Bodendielen, Wasserrauschen irgendwo in der Leitung einer anderen Wohnung. Das Brummen des Kühlschranks. Tatsächlich war Ian ein wenig blass um die Nase geworden und als er sich diesmal durch die Haare fuhr, die sich an den Spitzen von der Dusche noch ein wenig ringelten, zitterte seine Hand kaum merklich.

„Ich wollte das Leben, das ich führe längst beenden, Anna."

Bei diesem Satz wurde mir kalt. Die Sorge, die ich um Finn hatte, war mit einem Schlag wieder da. Nur heftiger, denn Ian war kein gesichtsloser Fremder.

„Jeder einzelne Satz, den ich dir geschrieben habe, war ernst gemeint. Ich schwöre es, ich wollte dieses Leben so nicht weiterführen. Bitte glaub mir Anna. Es tut mir leid. Ich wollte nicht mit deinen Gefühlen spielen, ich wusste nur an einem Punkt nicht mehr, wie ich aufhören soll, als ich schon so tief in dieser Sache steckte. Ich hatte Angst. Angst, dich zu verlieren."

Inzwischen kniete Ian neben mir vor der Couch. Seine Worte ergaben absolut keinen Sinn. Und auf schreckliche Weise doch. Auf so absurde Art, dass ich den Gedanken nicht zu Ende denken konnte. Es war wie eine Art Selbstschutz, der verhinderte, die nötige Schlussfolgerung zu ziehen, damit meine Schaltkreise nicht durchschmorten. Wenn ich mich weigerte, Ian zu verstehen, dann konnte ich vielleicht verhindern, dass meine Welt in Splitter zerbarst, wo ich gerade begonnen hatte, aus den Trümmern der Vergangenheit eine Zukunft zu gestalten. Langsam hob ich die Arme und schlang sie um meinen Oberkörper. Obwohl ich Ian anstarrte, blickte ich durch ihn hindurch, ohne ihn zu sehen. Meine Gedanken ratterten mechanisch durch mein Gehirn.

„Was du mir geschrieben hast?" Meine Stimme klang belegt und unter Anstrengung fokussierte ich mich auf Ians Gesicht.

Ich kapierte genau, was er sagte. Ich verstand, was er meinte. Das reichte nicht. Er musste es sagen. Ich musste das von ihm hören.

„Finns Briefe... das war ich. Ich hab sie geschrieben."

Noch nie klang Ians Stimme dünn und brüchig wie jetzt. Selbst als er sich räusperte und weitersprach, blieb sie kraftlos.

„Stella hat deinen Brief damals aus dem Briefkasten geholt und aus reiner Neugier gelesen. Dann hat sie ihn mir und den anderen gegeben, damit wir kapieren, was wir mit unseren Psycho-Spielchen anrichten. Und wie sehr Grayson dich verletzt hat. All deine Gefühle schwarz auf weiß zu lesen, offen und unverstellt, war furchtbar. Ich wollte das wieder in Ordnung bringen."

Fassungslos starrte ich in sein inzwischen vertrautes Gesicht, Tränen brannten in meinen Augen, während sich das Gefühl des Verrates wie Gift durch meine Adern fraß. Fassungslos flüsterte ich meine nächsten Fragen. Eine einzelne Träne löste sich und hastig blinzelte ich ihre Brüder und Schwestern weg.

„Stella hat es auch gewusst? Die ganze Zeit? Und die anderen auch?"

Sie klangen wie eine Frage, aber es waren Feststellungen, die Ian bestätigte.

„Und Finn? Ihn gibt es. Er war bei deiner Feier und später bei mir. Wer? Nate?" Je länger ich darüber grübeln konnte, desto wahrscheinlicher war es. Seine Stimme war mir nicht so vertraut. Er hatte nach Alkohol gerochen, angeblich, weil jemand einen Drink verschüttet hatte. Dann nach Kaffee. Und beim letzten Treffen, als er das Date absagte, nach Aftershave.

„Er hat mitbekommen, dass du nach Finn suchst. Er dachte, du wärst leichte Beute. Ich hab ihm gesagt, er soll dich in Ruhe lassen, aber er ließ sich nicht abschütteln. Nachdem er in deinem Wohnheim aufgetaucht ist und dich auf das Date eingeladen hat, hab ich ihn unter Druck gesetzt. Daraufhin hat er einen Rückzieher gemacht."

Einen Rückzieher, der dazu geführt hatte, dass ich mit Ian in diesen Club gegangen war und hinterher bei ihm gelandet. Betrunken.

Mir wurde übel. In Worte zu fassen, zu beschreiben, wie dumm ich mir vorkam, konnte ich kaum. Das alles war ein abgekartetes und inszeniertes Schauspiel. Sonst nichts.

„Und die Nachricht wegen des Festivals? Die kam von ihm? Von diesem Finn?"

Ian starrte zu Boden, dann hob er den Blick.

„Nein. Die kam von mir."

„Dann hast du das alles geplant? Dass wir uns dort treffen? Dass wir zu dir gehen, und... Du hast mir geschrieben, während ich hier in deinem Bad war? Von einer fremden Nummer?"

Meine Stimme versagte. Aber das war nicht schlimm, weil es im Grunde nichts mehr zu sagen gab. Langsam stand ich auf. Meine Bewegungen waren steif und hölzern.

Ian war ein Betrüger. Er manipulierte, mogelte und bluffte sich durch sein Leben wie ein Falschspieler. Er hatte geblufft und gewonnen.

Mein Herz.

Mein Vertrauen.

Und ich stand mit leeren Händen da. So war das, wenn man als Verlierer aus einem Spiel hervorging, von dem man nicht wusste, das es gespielt wurde. Wie es gespielt wurde.

„Anna, wo willst du hin?"

Ian folgte mir zur Tür, versuchte mich aufzuhalten.

„Ich werde nach Hause gehen, Ian. Und du lässt mich jetzt besser los."

Angewidert starrte ich auf die Hand, die sanft wie immer, meinen Ellbogen umfasste. Seine Berührung verursachte mir Übelkeit.

„Anna, bitte geh nicht. Lass mich erklären..."

„Nein, Ian. Da gibt es nichts zu erklären. Du hast dir als Finn Informationen erschlichen, die du benutzt hast, damit ich mich in dich verliebe. Du hast mich zu einem Treffen mit einem Typen gelockt, der so, wie ich ihn mir vorgestellt habe, nie existiert hat. Einfach, weil du es konntest. Nichts von all dem war echt!"

„Nein! Verdammt, Anna, so war es nicht. Bitte glaub mir! Ich wollte dich nicht manipulieren. Ich wollte dir schon längst alles sagen. Erinnerst du dich? Als ich dich von der Bibliothek abgeholt habe? Ich hab dir gesagt, wir müssen reden. Nur lief an dem Abend alles anders als gedacht."

Energisch schüttelte ich die Hand ab. Ich musste hier raus, bevor ich schwach wurde. Bevor ich meinen Verstand und mich selbst verlor, weil ich unbedingt seinem flehenden Blick glauben wollte. Meine Gefühle für ihn fühlten sich noch immer echt an. Die Gefühle für den Jungen, der in mir lesen konnte, wie in einem offenen Buch. Weil er die Geschichte bereits kannte.

Tränen schwammen in meinen Augen, als ich die Treppe runter hastete. Aber ich war vorsichtig, konzentrierte mich nur auf die Stufen und darauf die Ströme einzudämmen, die aus meinen Augen fließen wollten. Unten sprintete ich um die nächste Ecke, die Straße runter, dann eine weitere.

Ians verzweifelte und besorgte Rufe folgten mir durch die Dunkelheit. Aber es gelang mir, ihn abzuschütteln, indem ich mich in den Schatten eines Hausganges drückte, bis er vorbeigelaufen war. Erst dann gestattete ich mir, an der Wand hinunterzurutschen und zusammenzubrechen.

...außerdem müssen wir reden. Er hatte es wirklich gesagt. Nur machte es nichts besser, nichts anders oder ungeschehen.

Tränen flossen über meineWangen und meinen Hals hinunter. Tränkten mein Shirt und selbst meinen BH. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich konnte nicht ins Wohnheim zurück. Auf keinen Fall. Allein der Gedanke an Stellas Verrat ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Mühsam rappelte ich mich hoch. Ich musste hier weg und das Einzige,was mir momentan einfiel war...

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt