FÜNFUNDZWANZIG

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„Na dann komm, Rotschopf. Nicht dass die anderen Gäste uns alles wegfressen", trieb Ian zur Eile und strebte dem Eingang zu, noch bevor ich die Tür des Wagens geschlossen hatte. Er öffnete die dunkle Eichentür mit Butzenglasscheiben und betrat einen winzigen Vorraum, kaum mehr als ein Windfang. Zu zweit hatten wir gerade eben Platz.

Durch eine weitere Tür gelangten wir in die Gaststube. Große massive Holztische, mit Bänken an den langen Seiten dominierten das Bild und Stimmengewirr und feuchtwarme Luft, die geschwängert war mit den Aromen frisch gekochten Essens, schlug uns entgegen. Ian hat keineswegs übertrieben. Die Kneipe war brechend voll bis unters Dach.

„Hey Ian", begrüßte uns im Vorbeieilen eine ältere Frau, deren geflochtener Zopf über ihren Rücken schwang.

„Sucht euch einen Platz. Ich bring dir dein Ale gleich." Sie zwinkerte Ian zu. Dann musterte sie mich kurz von Kopf bis Fuß. Was sie sah, schien ihr zu gefallen, denn zum Schluss lächelte sie verhalten.

„Was willst du trinken?"

„Stout, bitte. Guinness oder was ihr sonst habt."

Sie nickte freundlich.

„Kommt sofort."

Ian legte eine Hand auf meinen unteren Rücken und dirigierte mich in eine Richtung.

„Da vorne ist noch was frei." Unwillkürlich musste ich grinsen.

„Und heute schnappst du mir mal nicht den Platz weg?", fragte ich und blinzelte zu ihm hoch in diese unglaublichen Augen. Einen Moment lang blickte Ian nur zu mir herunter und hielt meine winzigen Augen hinter den dicken Gläsern mit seinem Blick gefangen. Die Konzentration, mit der er diesem Schwachpunkt seine Aufmerksamkeit widmete, machte mich verlegen und ich schluckte nervös, dann wich ich seinem Blick aus. Nur ein paar Zentimeter nach unten, wo sich zu dem belustigten Schimmern in Ians Augen ein leichtes Lächeln um seine Lippen andeutete.

„Ich habe dir von Anfang an angeboten, auf meinem Schoß zu sitzen, Anna. Wenn du es vorziehst, dir einen anderen Platz zu suchen, ist das allein deine Entscheidung." Ians Augen funkelten noch intensiver, als ich ihn sprachlos anstarrte. Plötzlich wurde mir bewusst, wie vertraulich die Hand in meinem Rücken lag, wie nahe wir uns in der Enge der Gaststube kamen. Trocken schluckte ich noch einmal. Wie er mich ansah, stürzte mich in leichte Verwirrung. Hastig wendete ich mein Gesicht ab, bevor er bemerkte, dass mich die Situation durcheinanderbrachte. Zum Glück konnte er nicht hören, wie mein Herz unter seinem Blickastolperte. Nicht gut. Gar nicht gut.

Als die Frau mit unseren Getränken auftauchte, fragte sie uns sofort, ob wir schon wüssten, was wir essen wollten.

„Wir kriegen das Stew", antwortete Ian für uns beide und nickend notiert die Kellnerin seinen Wunsch und meinen, von dem ich bisher selbst nichts wusste.

„Mit oder ohne Graupen?", erkundigte sich die Frau und blickte zwischen uns hin und her.

Einen Augenblick zögerte ich. Eigentlich mochte ich es mit Graupen lieber. Granny hatt aber immer wieder betont, ohne sei traditioneller. Unsicher, weil ich nichts falsch machen wollte, sah ich zu Ian, begegnete dort nur einer sehr unverbindlichen Miene.

„Mit Graupen, bitte", entschied ich, bevor ich die Zeit der Bedienung über Gebühr strapaziere. Ein Lächeln huschte über Ians Gesicht.

„Für mich auch", bestellte er zu meiner Erleichterung.

Nachdem die Bedienung mit unserer Bestellung abgezogen war, lehnte sich Ian gemütlich auf der Bank zurück und kreuzte seine Arme vor der Brust, was seine Oberarmmuskeln sehr hübsch zur Geltung brachte.

„Also, Anna, dann lass mal hören, was du für mich kochen willst. Kann ich mich auf Tiefkühlpizza gefasst machen oder gibt es was Richtiges?"

Seine Frage war eine pure Provokation, auf die nicht nur ich reagierte. Die Frau zu meiner rechten atmete scharf ein, ihre Freundin -oder Schwester?- die mir gegenüber und direkt neben Ian saß, warf ihm von der Seite einen tödlichen Blick zu. Würde er ihn sehen, wüsste er, dass er ihrer Meinung nach besser die Klappe halten sollte. Nur bemerkte er nicht das geringste, weil seine Augen auf meinem Gesicht ruhten. Verlegen blickte ich auf die Tischplatte. Dass er mich schon wieder genau musterte, war verdammt unangenehm und meine Wangen glühten schon wieder.

„Ich weiß nicht genau, was dir schmeckt", wich ich aus. „Also, was dein Lieblingsessen ist oder so."

„Lieblingsessen?" Ian zog fragend eine Augenbraue hoch und klang plötzlich gereizt.

„Ist das dein Ernst, dass du nach meinem Lieblingsessen fragst? Wir sind keine Kinder mehr!" Verständnislos schüttelte er den Kopf und griff nach seinem Ale. Ohne anzustoßen trank er einen großen Schluck.

Verlegen fuhr ich mit meinem Daumennagel die Maserung der Tischplatte nach und versuchte zu verstehen, was an meiner Aussage falsch war. War es ein Fehler, wenn ich etwas kochen wollte, das ihm schmeckte?

„Was kommt als nächstes? Willst du meine Lieblingsfarbe wissen? Den aktuellen Lieblingssong und ob ich dreilagiges oder vierlagiges Klopapier bevorzuge?"

Ian hatte sich richtig in Rage geredet und inzwischen guckten nicht nur die beiden Frauen neben uns verstohlen herüber, sondern auch die Gäste vom Nachbartisch.

„Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahetreten und im Studentenwohnheim gibt es eh nur dieses graue Ökoklopapier. Ich bin nicht mal sicher, ob es einzelne Lagen hat oder mit der Säge aus Blöcken geschnitten wird", faselte ich und mied seinen Blick.

„Mann, Anna, darum geht es gar nicht!", stöhnte er gequält und ich weiß, dass er es spätestens jetzt bereute, mich mitgenommen zu haben.

„Ich will nicht, dass das zwischen uns zu persönlich wird, okay?"

„Klar, deswegen sitzen wir auch hier. Verstehe ich", behauptete ich, was aber keineswegs stimmte. Ratlos sah ich über den Tisch, fing einen mitleidigen Blick von Ians Tischnachbarin auf und einen mürrischen von Ian, der etwas milder wurde, als die Bedienung kurz darauf unser Essen brachte. Die Stimmung war offiziell im Arsch. Schweigend und beklommen löffelte ich meinen Eintopf. Er war gut, fast so gut wie bei Granny. Aber ich schmeckte nur die bittere Erkenntnis, dass ich Ian im Grunde auf die Nerven ging und er nichts mit mir zu tun haben wollte, das über Oberflächliches hinausging. Im Gegensatz zu Finn.

Finn. Was der wohl gedacht hätte, wenn er mich und Ian hier sah? Einen Tag vor unserem Date? Plötzlich wurde ich nervös und hatte es sehr eilig den Teller zu leeren und gleich darauf mein Glas.

„Können wir dann gehen?", fragte ich Ian, kaum dass ich den letzten Bissen runtergewürgt hatte. Er schien ebenfalls erleichtert, denn sofort nickte er und winkte der Bedienung wegen der Rechnung.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt