Nach dem Abendessen mit Davis lagen meine Nerven blank. Ich war froh, als ich ihn im vierten Stock bei seinem Gästezimmer abgeliefert hatte und durch überfüllte Korridore zurück zu meinem Zimmer lief. Noch während ich einen Schritt vor den anderen setzte, löste ich den strengen Dutt auf meinem Kopf und rieb über meine schmerzende Kopfhaut, an der die Haare seit Stunden zerrten. Den Haargummi um mein Handgelenk gebunden, griff ich nach dem Türknauf meiner Zimmertür, der sich wie so häufig in letzter Zeit, widerstandslos drehen ließ. Das sichere Vorzeichen, gleich Stella gegenüber zu stehen, wühlte mich nur halb so sehr auf wie am Vortag. Von zwei schlechten Alternativen war sie definitiv die bessere Gesellschaft für den heutigen Abend. Mit ihr musste ich mich wenigstens weder unterhalten noch ihre Sticheleien über mein Betragen, meine Wortwahl, meinen Kleidungsstil oder meinen schlechten Musikgeschmack ertragen. Ich konnte sie getrost ignorieren. Gedankenverloren betrat ich den Raum und blieb wie angewurzelt stehen. Ein breiter Rücken hob sich gegen das Zwielicht ab, das durch das Fenster herein sickerte. Offenbar konnte hier neuerdings jeder kommen und gehen, wie er lustig war. Gestern Davis in meinem Bett, heute war es Ian, der mit vor der Brust gekreuzten Armen vorm Fenster stand und nach draußen starrte.
Der Anblick war nichts, worauf ich gefasst war und ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Eine Option wäre gewesen, ihn anzuschreien, er solle verschwinden. Oder ich konnte meine Arme um ihn legen und meinen Kopf in die Mulde zwischen seinen Schultern drücken. Oder ihm in den Arsch treten, sodass er aus dem Fenster flog Tief holte ich Luft und unterdrückte mit Mühe den Drang, die Luft mit einem Seufzen auszustoßen.
„Was machst du hier?", fragte ich möglichst neutral. Immerhin möglich, dass er nur auf seine Schwester wartete.
Allein. Im Dunkeln. Schon klar.
Als Ian meine Stimme hörte, drehte der Angesprochene sich zu mir um. Seine sturmgrauen Augen suchten meine. Tiefe, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und in mir regte sich leise Mitleid. Ohne Zweifel sah er so erschöpft aus, wie ich mich fühlte.
„Können wir reden? Bitte?", fragte er mich, die Hände tief in der Kängurutasche seines Hoodies vergraben.
Das war mal direkt. Seufzend ließ ich meine Tasche neben dem Schreibtisch fallen und rieb mir über die Stirn, die ich ihm jetzt bieten sollte. Nur fehlte mir die Kraft, ihn nach dem nervenaufreibenden Tag mit Davis rauszuwerfen. Auf einen halbherzigen Versuch ließ ich es trotzdem ankommen.
„Mir wäre es lieber, du würdest gehen", entgegnete ich und kreuzte ablehnend die Arme vor der Brust.
„Anna, bitte, lass mich erklären...", begann Ian noch einmal. Abwehrend hob ich eine Hand.
„Da ist nichts zu erklären, Ian. Du hast mein Vertrauen missbraucht."
„Aber du meins auch", konterte er sofort. Mit dieser Aussage erwischte er mich eiskalt.
„Wie bitte? Ich deins?" Bestimmt entgleisten meine Gesichtszüge gerade vor Verblüffung. „Wann hab ich dein Vertrauen missbraucht?"
„Indem du Finn geschrieben hast. Ihm all diese Dinge anvertraut hast, die du mir vorenthalten hast. Ihm hast du viel mehr Raum in deinem Leben gegeben als mir."
Dieser Vorwurf war an Skurrilität nicht mehr zu überbieten. Er konnte wohl kaum Eifersucht auf die Person empfinden, die er selbst erdacht hatte?
„Ihm hast du dich viel mehr geöffnet als mir", schob Ian noch nach und versetzte mich damit erneut in ungläubiges Staunen.
„Und du? Du hast dich mir geöffnet, ja?", fuhr ich Ian an. „Woher stammt dein Auto? Wofür hast du Sozialstunden bekommen? Du bist bestimmt keine Plaudertasche gewesen, das weiß ich sicher! Du hast mit Sicherheit mehr Geheimnisse als ich!"
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomantikManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...