SIEBENUNDFÜNFZIG

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Vor drei Stunden war meine Welt in Trümmer zerbrochen. Und ich mit ihr. Aber Carter hatte mich unter den Trümmern herausgezogen. Mich reanimiert und auch wenn mein Herz noch holprig schlug bei dem Gedanken, mich bei einem Arzt vorzustellen, hatte er einer Idee Leben eingehaucht: Mich zumindest beraten zu lassen. Jetzt war ich wegen dieser Möglichkeit noch aufgeregter als wegen des Auftrittes von Fives in ein paar Stunden, oder der Möglichkeit Ian irgendwo auf dem Campus zu begegnen.

Das änderte sich schlagartig, als Carter mich auf dem Weg zu seinem Dienst in der Bibliothek vor der Uni rausließ.

„Bis Mittwoch", sagte Carter zum Abschied und ich lächelte. Diesmal machte sich gute Aufregung breit.

„Und viel Glück mit Stella", setzte er hinzu und schwupp, da war das üble Flattern in meiner Magengrube zurück.

Ich schlug die Autotür lauter zu als nötig und legte die paar Meter zum Eingang des Wohntraktes zurück. Vielleicht hatte ich Glück und Stella war noch nicht da, sodass ich mich fertig machen und ins Projekt fahren konnte, ohne ihr zu begegnen. Die Chancen an einem Samstag standen dafür nicht mal schlecht, nur wurde ich enttäuscht. Widerstandslos ließ der Türknauf sich drehen und die Zimmertür schwang auf.

Stella saß auf ihrem Bett, ihr Handy in der Hand. Als sie mich sah, warf sie es neben sich auf das Kissen.

„Oh Gott! Endlich! Weißt du was wir uns für Sorgen gemacht haben?" Stella sprang auf und vermittelte den unguten Eindruck, mich erleichtert umarmen zu wollen. Dem wich ich sehr resolut mit einem großen Schritt zur Seite aus.

„Nein?", gab ich äußerlich kühl zurück, obwohl mein Herz raste und meine Finger schwitzten. Mit einem weiteren Schritt zur Seite umrundete ich Stella und warf meine Sachen, die ich seit dem Vortag mit mir rumschleppte auf mein Bett.

„Nein? Ian ist fast verrückt vor Sorge. Er hat bestimmt zwanzig Mal angerufen, ob du zurück bist!"

Ich überhörte den Vorwurf in ihrer Stimme geflissentlich und zuckte mit den Schultern.

„Mir war nicht klar, dass ich euch nach eurer beschissenen Verschwörung Rechenschaft schuldig bin."

„Unserer?" Empört schnappte Stella nach Luft. „Also hör mal! Ich hab keine Briefe unter falschem Namen geschrieben!"

Diese Verteidigung stand freilich auf äußerst wackeligen Beinen.

„Du hast Ian aber auch nicht davon abgehalten! Du hast ihm und den anderen überhaupt erst meinen Brief in die Hände gespielt. Hättest du ihn im Briefkasten gelassen, dann wäre all das nie passiert", warf ich ihr vor.

„Aber Anna, dann hätte Ian so weiter gemacht. Dich geärgert. Ausgegrenzt. Gequält. Gemobbt. Dein Brief war so echt. So ehrlich. Und er hat Ian endlich vor Augen geführt, was er mit seinen ständigen Hänseleien und Spielchen anrichtet und damit aufgehört."

Empörung führte meine Zunge und meine Entgegnung fiel entsprechend scharf aus.

„Stella, er hat nicht aufgehört. Er hat sich für jemand anders ausgegeben und die gewonnenen Infos benutzt, um mich zu manipulieren. Er hat mir das Gefühl gegeben, dass wir auf einer Wellenlänge waren und dass er mich versteht. Nichts, aber auch gar nichts davon war echt. Oder ehrlich. Er hat mich benutzt."

„Benutzt? Wofür denn? Welchen Nutzen hat er denn aus dir ziehen können? Du bist nichts, du hast nichts, du kannst nichts. Du bist ein Niemand! Von Benutzen kann also gar nicht die Rede sein. Er wollte es wieder gut machen."

Stellas Worte taten weh. Rissen alte Wunden auf, die Davis vor langer Zeit brutal geschlagen hatte. Aber bei Stella gingen sie nicht so tief. Bohrten sich nicht wie Stachel tief in mein emotionales Sitzfleisch. Für Davis wollte ich eine Schwester sein. Ich wollte eine normale Familie. Vater, Mutter, Sohn, Tochter. Und einen Hund. Einen süßen flauschigen winzigen Vierbeiner. Zum Knuddeln und liebhaben. Von Stella hatte ich maximal Freundschaft erwartet. Ihre Feststellung, ich sei ein Niemand, traf mich nicht so elementar wie die dauernde Ablehnung meines Stiefbruders.

„Mich hinters Licht zu führen, mich zu küssen, mir Gefühle vorgaukeln, hat nichts mit Wiedergutmachung zu tun. Und wenn du mir jetzt den Gefallen tun könntest, mich in Ruhe zu lassen? Ich habe es eilig. Mein Leben möchte weitergelebt werden. Ohne Ians und deine Einmischung und all eure Lügen."

„Aber ich wollte dir nur helfen!", jammerte Stella.

„Indem du Ian hilfst, mir das Herz zu brechen? Indem du einen privaten Brief an Ian und seine kranken Freunde durchreichst? Da sag ich mal Danke. Danke für nichts!"

Langsam ließ Stella sich wieder auf ihr Bett fallen. Allmählich schien ihr bewusst zu werden, wie ernst es mir war. Sie sollte mich in Ruhe lassen.

„Wie geht es denn jetzt weiter mit uns?", fragte sie so leise, dass ein Flüstern dagegen einem Schrei glich.

„Uns?"

Ich konnte gar nicht fassen! Sie hatte es noch immer nicht kapiert. Mein Herz lag in Scherben. Vor ein paar Augenblicken hatte Stella mir gesagt, ich wäre auf dem Niveau von Mist unterm Schuh angesiedelt. Unbrauchbar. Nichts.

„Es gibt kein uns!"

Dieser Satz stellte für mich den Schlusspunkt der Unterhaltung dar. Hastig suchte ich Duschzeug und Kleidung zusammen, dann verließ ich mit einem nachdrücklichen „Rumms" der Tür unser Zimmer und kehrte auch nicht mehr zurück. Meine getragene Wäsche stopfte ich in meinen Küchenschrank. Zugegebenermaßen eklig, aber eine Verzweiflungstat, und mein Duschzeug ließ ich, wie viele andere, heute zum ersten Mal auf den Holzbrettchen im Gemeinschaftsduschraum zurück. Mit dem Bus fuhr ich zum Austragungsort des Contests, einer alten Fabrikhalle, und drängte meinen privaten Ärger in den Hintergrund. Die Vorrunde geschafft zu haben verwandelte die Fives in einen hypernervösen Haufen. Verständlich, denn der abgewandelten Choreo für das Achtelfinale konnten wir nicht zu viel Aufmerksamkeit widmen. Wir hatten uns darauf konzentriert die Vorrunde zu meistern. Sich über das Danach Gedanken zu machen, bevor wir sicher wussten, wie es weiterging, dass es weiterging, erschien uns allen unsinnig. Mal abgesehen davon, dass keine Zeit war. Nun stand ich nervös am Bühnenrand und kaute auf meinem Daumennagel.

Mit schmerzhafter Intensität wünschte ich mir Ian herbei. Ausgerechnet in diesem Augenblick wollte ich in die sturmgrauen Tiefen seiner wunderschönen Augen tauchen und Ruhe aus ihnen ziehen. Ich wollte Ians Arme um mich fühlen, die verhinderten, dass ich vor lauter Anspannung explodierte. Ich war sicher, die Jungs und Bella konnten erfolgreich sein. Dass sich der Ausgang aber meinem Einfluss entzog, machte mich wahnsinnig. Warum ich glaube, ausgerechnet Ian könnte es schaffen, dass ich die Machtlosigkeit besser ertrug, lag auf der Hand. Er kannte mich besser als jeder andere. Besser, als ich es hätte ahnen können. Ich wollte ihn nicht brauchen. Ihn nicht vermissen. Nach nicht einmal vierundzwanzig Stunden seit dem Schockereignis, hatte mein Herz dummerweise noch nicht kapiert, dass ich wieder auf mich allein gestellt war.

Die Augen stur auf die Bühne gerichtet, versuchte ich mich gegen die aufsteigenden Gefühle zu wehren. Beobachtete die Konkurrenz. Dabei fühlte ich mich seltsam losgelöst von der gegenwärtigen Situation, als würde ich das Geschehen nur von außen betrachten. Solange ich etwas hatte, auf das ich mich bewusst konzentrieren konnte, flaute das nagende Verlustgefühl in mir zu dumpfem Schmerz ab. Sobald etwas diese Konzentration störte, flammte es auf. Den restlichen Abend verbrachte ich in diesem Wechselbad der Gefühle. Es war erschöpfend und ich sehnte mich danach, diese gewaltige Anstrengung um Fassung zu beenden. In meinem Zimmer zu sein und mir ein wenig Selbstmitleid erlauben zu dürfen. Wenigstens für ein paar Stunden.

Die Fives schafften es locker ins Viertelfinale. Das vereitelte meine Pläne, an einer Tankstelle Eis zu kaufen und es in Lichtgeschwindigkeit in mich reinzuschaufeln, bis mich Übelkeit zu einer langsameren Gangart zwang. Stattdessen fand ich mich unversehens mit den anderen in einer Bar wieder. Ein schwarzer Stempel an meiner Hand wies mich als minderjährig aus und Alkoholausschank konnte ich mir entsprechend in die Haare schmieren. Also setzte ich mich auf einen wackligen Stuhl und heuchelte freudige Anteilnahme an Gesprächen, die mich nicht interessieren, lachte an den hoffentlich richtigen Stellen und benahm mich so sehr wie Anna, dass ich beinahe selbst glaubte, ich sei okay und käme wunderbar zurecht.

Ich freute mich sogar, als ich den Knauf drehte, das Wohnheimzimmer öffnete, um in diesen kleinen geschützten Raum zu gleiten, der mein Zuhause war. Dabei schluckte ich sogar die Kröte, dass Stella noch immer meine Mitbewohnerin und offensichtlich auch zu Hause war. Die Freude über meine Heimkehr war von kürzerer Dauer als ich es mit je hätte träumen lassen. Nie im Leben hatte ich damit gerechnet, dass er in der Dunkelheit auf mich warten könnte. Zusammengekauert unter meiner Tagesdecke. Die Füße noch in den Schuhen, einen Arm in einem grotesken Winkel von sich gestreckt.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt