ACHTUNDZWANZIG

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Mühsam unterdrückte ich den Wunsch, durch unser Zimmer zu tanzen und setzte mich stattdessen auf den Stuhl, den mir Stella entgegen schob.

„Nicht zu viel Make-up, bitte", erinnerte ich sie, als sie sich die erste Tube griff, die Grundierung enthielt.

„Gott, Anna, hab dich nicht so! Das ist jetzt kein Date mehr, du gehst in einen Club. Da ist es schummrig. Ergo brauchen wir mehr von allem", dozierte meine Mitbewohnerin siegessicher. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sie wusste, was sie tat. Als ich in den Spiegel sah, blickte mir eine junge Frau mit porzellanglatter Haut entgegen. Selbst meine Sommersprossen waren unter der Deckschicht verschwunden. Am verrücktesten war aber, dass meine Narbe sich optisch kaum von der Haut außenherum unterscheiden ließ. Solange ich nicht lächelte oder sprach, war sie wahrhaftig nicht existent.

„Du siehst wie eine kleine Elfe aus", behauptete Stella und ich lächelte glücklich über ihr, wenn auch etwas übertriebenes, Kompliment.

Eilig stieg sie in ihr eigenes Kleid, ein Gedicht aus seidig glänzendem schwarzem Stoff, das knapp unter der Bananenfalte ihres Pos endete und extrem tief ausgeschnitten war. Bücken brauchte sie sich da nicht, das stand mal fest.

Wenn ich mir ihren Stoffverbrauch ansah, konnte man aus meinem Kleid vermutlich zwei dieser Mikrokleidchen schneidern.

„So los, komm. Ian lässt uns wirklich hier, wenn wir uns nicht beeilen."

Wie auch beim letzten Mal erwartete Ian uns auf dem Parkplatz. Er lehnte rauchend an der Beifahrertür, als er uns kommen sah, schnippte er seine Zigarette weg. Mürrisch verzog sich sein Gesicht und er fokussierte sich völlig auf Stella.

„Dein Ernst? Du willst in diesem bisschen Stoff in den Club? Mein Gott Stella! Häng dir am besten gleich ein „ich hab's mal wieder nötig"-Schild um."

„Arsch!", brummte Stella und riss die hintere Tür auf.

„Nicht Arsch. Das Wort, das du suchst, heißt ehrlich."

„Ehrlicher Arsch", gab Stella gespielt süßlich von sich und kletterte umständlich ins Auto. Ich stand derweil unbeachtet am Rande des Geschehens, bis Ian sich kopfschüttelnd von der Beifahrertür abstieß und etwas von „Weiber" murmelte, bevor er die Tür hinter Stella zuschlug.

„Komm schon, Rotschopf, steig ein", wendete Ian sich an mich. Mit einer galanten Armbewegung öffnete er mir seine Beifahrertür. Vorsichtig raffte ich mein Kleid vorne und schob mich an Ian vorbei. Enttäuscht stellte ich fest, dass er heute nur nach Aftershave und Zigaretten roch. Kein bisschen nach dem Holzrauch meiner vergangenen Kindheit.

„Du siehst umwerfend aus, Anna. Dein Finn wird sich ein zweites Loch in den Arsch ärgern, dass er dich hat sitzen lassen."

Überrascht sah ich auf in Ians ordentlich rasiertes Gesicht. Verräterische Wärme kroch über meine Wangen wegen des unerwarteten Komplimentes.

„Obwohl mir deine wilden Locken besser gefallen." Neckend zog er an einer meiner mühsam gezähmten Strähnen.

„Da wärst du aber der Erste!"

Mit Unbehagen beobachtete ich, wie Ians Grinsen sich vertiefte und anzüglich wurde.

„Es ist immer nett, bei einem Mädchen der Erste zu sein."

Die Hitze in meinen Wangen nahm zu.

„Ihr habt noch den ganzen Abend Zeit zu flirten! Wir müssen uns langsam beeilen, Leute. Nora und Felicity hassen es, zu warten und Nate noch viel mehr. Er wird ausrasten, wenn wir zu spät kommen!", erinnerte Stella uns aus dem Wageninneren und plötzlich nahmen meine Sorgen, was den Verlauf des Abends anbelangte, erst richtig Gestalt an. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, wer die „anderen", die die beiden trafen, sonst sein sollten.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt