NEUNUNDDREISSIG

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Schwer wie einer nasser Wollpullover lagen meine Haare auf meinem Rücken und Ian schob mich bis in die hinterste Ecke des Hauseingangs. Sein Oberteil klebte wie halbtransparente Klarsichtfolie an seinem Oberkörper und mit der Hand strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht, aus denen Wasser über sein Gesicht rann. Wir sahen wieder mal beide aus, als hätten wir voll bekleidet geduscht.

Wieder mal? Shit. Wie komme ich drauf, dass wir schon mal bekleidet geduscht haben?

Verunsichert suchte ich nach Ians Blick, konnte aber durch die vielen Tropfen auf meiner Brille nur verzerrt sehen. In diesem Falle reichte das ausnahmsweise aus. Seine Augen lagen unverwandt auf meinem Gesicht und die Luft wurde zu dünn zum Atmen. Sein Blick wanderte langsam zu meinen Lippen, bevor er mir wieder in die Augen sah und mich mit rauer Stimme fragte:

„Und, Anna? Wenn ich gefragt hätte, wärst du gekommen?"

Wie gebannt starrte ich weiter in seine Augen. Lauschte dem Rauschen in meinen Ohren, als würde ich dort die Antwort auf Ians Frage finden. Dabei kannte mein wild pochendes Herz die Antwort am besten.

„Wärst du?", hakte er noch einmal nach, bevor er einen Schritt nähertrat und mit den Fingerspitzen meine Schläfe streifte, um dann ein paar meiner nassen Strähnen hinter mein Ohr zu klemmen.

„Ja, ich denke schon", presste ich hervor und stellte fest, dass Ian seine Hand nicht zurückzog, sondern sinken ließ und die empfindliche Stelle unterhalb meines Ohrläppchens mit seinem Daumen liebkoste. Wie die Elektrizität einer neun Volt Batterie auf nasser Haut zog ein Kribbeln durch meinen Körper, das durch Ians Blick noch verstärkt wurde, der wieder auf meinen Lippen haftete. Aber nicht lange, denn dann stützte er die zweite Hand neben meinem Kopf ab und beugte sich langsam über mich.

Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen, während sich Ian meinem Gesicht näherte und dann seine Lippen vorsichtig auf meine legte. Warm, zärtlich und viel zu vertraut bewegte sich sein Mund auf meinem, strich seine Zunge über meine Unterlippe. Das Kribbeln in meinem Inneren verstärkte sich, je länger der Kuss dauerte. Seine Hände wanderten nach unten, umschlangen meine Taille und Hitze breitete sich in mir aus, obwohl meine Haut eiskalt und klamm war. Ein Zittern durchlief meinen Körper, das nicht nur mit Ians Lippen zu tun hatte, die sanft an meiner Unterlippe zupften, während ich stöhnend meine Hände in seinem nassen Haar vergrub.

Langsam löste er sich von mir. Prüfend sah er mich an.

„Du zitterst. Ist dir kalt?", fragte Ian. Träge sah ich zu ihm auf in ein Gesicht, das ehrliche Sorge spiegelte und in Augen, die eine Wärme ausstrahlten, die eine leichte Beklemmung in mir auslöste. Es gelang mir nicht zur Situation aufzuschließen und zu begreifen, dass Ian mich geküsst hatte.

„Ein bisschen", gab ich zu, sobald meine Stimme mir gehorchte. Dabei war das die Untertreibung der Woche. Meine Jeansjacke war durchweicht und der Wind fegte noch immer waagerechten Regen durch die Straßen. Nur mit Mühe konnte ich mein Bibbern halbwegs kontrollieren.

Prüfend sah Ian zum Himmel, dann zu mir.

„Das kann noch ein bisschen dauern", stellte er mit der Expertise für das hiesige Wetter fest, die mir fehlte.

„Klingt heißer Tee und trockne Kleidung für dich so verlockend wie für mich?", seufzte er und sah mich fragend an.

Mit klappernden Zähnen nickte ich.

„Dann komm!", sagte er und trat rückwärts unter dem Dach hervor in den Regen. Mich zog er mit und ehe ich mich versah, rannte er schon los. Mit Mühe schaffte ich es, mit ihm Schritt zu halten, meine Sicht ließ aber sehr zu wünschen übrig, denn der Regen klatschte gnadenlos in mein Gesicht und meine Brille hatte keinen Scheibenwischer. Immer wieder stolperte ich in Pfützen, die ich nicht rechtzeitig sah, aber dank des Tempos, das Ian vorlegte auf dem Weg nach -ja wohin?-, schlotterte ich wegen der Geschwindigkeit wenigstens nicht mehr vor Kälte wie ein nasser Welpe.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt