SECHSUNDVIERZIG

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Am nächsten Morgen an die Uni zurückzukehren, fühlte sich seltsam an. Nicht nur, weil ich todmüde war, sondern weil ich ein Shirt von Ian trug und Boxershorts von ihm. Beides hatte er aus einem abgesperrten Hauswirtschaftsschrank in dem kleinen Haus am Meer gezaubert. Von Boxershorts unter Skinny-Jeans konnte ich zukünftig nur abraten, wenn man nicht gerade das Shirt eines muskulösen Typen überzog, das lang genug war, die unvorteilhaften Stoffröllchen unter der Hose zu verbergen. Was hatte ich nur für ein Glück, dass Ian so verdammt gut gebaut war. Ansonsten konnte ich weite Shirts und Shorts sehr empfehlen, wenn man sich mit einem heißen Typen in ein wirklich schmales Bett quetschte, der seine Hände nicht unbedingt bei sich behielt. Ohne dass ich mich für meine Nacktheit hatte schämen müssen, konnte Ian in der Nacht eine Menge nackter Haut an meinem Körper streicheln, die schon lange von niemandem mehr berührt worden war.

Als Ian auf dem hinteren Parkplatz unweit des Wohnheims hielt, brandete Nervosität in mir auf. Gemeinsam stiegen wir aus und Ian warf mir ein Lächeln zu.

„Beeil dich. Ich warte hier", raunte er, als ich die Tür zum Wohnheim aufstieß. Sein Lächeln und der Blick von dem es begleitet wurde, gehörte einem Gott und mühelos erschuf er hunderte winziger Schmetterlinge in meinem Bauch.

In Windeseile raste ich die Treppe rauf und in mein Zimmer, wo Stella mich mit einer hochgezogenen Augenbraue empfing.

„Warum genau erfahre ich von meinem Halbbruder, dass du abends nicht nach Hause kommst und ich mir keine Sorgen zu machen brauche, höre aber von meiner Mitbewohnerin selbst gar nichts?"

Dann sah sie mich genauer an und schob meine Jacke über meine Schultern nach unten.

„Heilige! Ist das Ians Shirt?"

Verlegen nickte ich.

„Du hast die vergangenen zwei Nächte mit meinem Bruder verbracht?" Sie seufzte theatralisch. „Endlich! Ich dachte schon, ihr beide fahrt es gegen die Wand! Dann seid ihr also zusammen?"

Wieder nickte ich und dieses Mal grinste ich überglücklich wie eine Idiotin, während ich eilig nach Kleidung suchte, ohne nur den geringsten Plan zu haben, was ich anziehen sollte. Ian sah immer so mühelos gut aus, wenn er nur ein Shirt und Jeans anhatte. Neben ihm fühlte ich mich schrecklich unzulänglich. Der Gedanke, Ian könnte sich für mich schämen, so wie Davis, verätzte meine Magenwände und hinterließ einen säuerlichen Geschmack in meinem Mund.

„Ist alles okay?", erkundigte sich Stella und erschrocken stellte ich fest, dass ich mich hätte beeilen müssen, aber bereits minutenlang in den Schrank starrte, ohne etwas zu sehen, außer Bildern aus meiner Vergangenheit. Höhnische Blicke von Davis. Enttäuschte Blicke meiner Eltern. Nie hatte ich es geschafft, alleine das zum Anlass passende Outfit zu wählen. Wie konnte ich wissen, was ich anziehen sollte, wenn ich das erste Mal einen Hörsaal an Ians Seite betrat?

„Anna?"

Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich um. An der Tür stand Ian und musterte mich.

„Wir kommen zu spät, wenn du dich nicht beeilst", stellte er trocken fest.

„Ich weiß, tut mir leid", stammelte ich und mein Blick wanderte zwischen Ian, Stella und meinem Schrank hin und her.

„Es ist nur, ich weiß nicht, was ich anziehen soll. Ich möchte dich nicht blamieren."

Ians Stirn krauste sich als Antwort und auf Stellas bildete sich eine steile Falte.

Dann fuhr sie ihren Halbbruder an: „Himmel, was hast du Idiot zu ihr gesagt? Warum sollte sie dich blamieren?"

„Er hat nicht..." Gleichzeitig sagte Ian: „Ich habe nicht..."

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt