Nach einer Fahrt in brütendem Schweigen ließ Ian den Wagen bis zum hinteren Ende des Parkplatzes bis direkt unter die Bäume rollen. Dort hielt er in zweiter Reihe.
„Dann bis demnächst mal", verabschiedete er mich.
„Bis demnächst. Und danke für alles. Also auch für das, woran ich mich nicht erinnere."
Einer seiner Mundwinkel hob sich zu seinem typischen schiefen Grinsen, die Augen funkelten spöttisch.
„Hab ich alles gern gemacht, Anna. Besonders die Dinge, an die du dich nicht erinnerst."
Zögerlich nickte ich, schlug dann die Tür zu und lief, meine alberne grüne Tasche unter dem Arm, den kurzen Weg zum Wohnheim und die Treppe hoch. Selbst von dem kleinen Stück über den Sandweg und die Steintreppe hinauf verwandelten meine Füße sich in Eiszapfen und meine Fußsohlen brannten und stachen wütend, als ich über den Linoleumboden in Richtung des Zimmers eilte.
Noch nie erschien mir eine heiße Dusche verlockender als in diesem Moment. Diskret klopfte ich an, obwohl ich noch nie erlebt hatte, dass Stella jemanden mit aufs Zimmer brachte. Nichts rührte sich im Zimmer, auch der Knauf nicht an dem ich vergeblich drehte. Zähneknirschend fummlte ich meinen Schlüssel aus der albernen Tasche. Über die Formulierung ka ich mal gar nicht hinweg. Das dunkelgrüne Veloursleder passte perfekt zu meinem Kleid!
Schnell schnappte ich mir mein Handtuch und frische Kleidung, viel Auswahl hatte ich nicht mehr, und machte mich auf zu den Duschen. Während das heiße Wasser auf meinen Nacken und auf meinen Rücken prasselte, erwärmten sich auch meine Füße langsam wieder. Selbst mein Gehirn nahm nach einer Durststrecke von mehreren Stunden endlich seine Tätigkeit wieder auf. Wie ein Puzzle setzte ich die Details der letzten Nacht zusammen und es ergab sich ein Bild. Eines mit Lücken zugegeben, aber immerhin ein Bild.
Vermutlich hatte ich mit diesem Typen, dessen Name für immer ein Mysterium bleiben musste, rumgemacht. Er war grob zu mir, Ian hatte mich gerettet und mich mit nach Hause genommen. Ende der Geschichte.
„Verdammt!", fluchte ich. Eben nicht Ende der Geschichte. Ian hatte so überzeugend behauptet, dass es besser war, nicht alles zu wissen, dass ich ihm in dem Moment geglaubt hatte und mir eher Gedanken darüber gemacht hatte, zu welchen Gelegenheiten er einen Filmriss hatte, statt das offensichtliche zu tun: nämlich ihn nach den fehlenden Details zu fragen, auch wenn die möglicherweise ähnlich peinlich waren, wie die Sache mit dem vollgekotzten Kleid, das noch immer bei Ian war.
Nach der Dusche durchstöberte ich meinen Küchenschrank nach Nahrung, entschied mich zuletzt für eine Tütensuppe. Die war zwar nicht nahrhaft, aber schnell fertig und ließ sich in einer großen Tasse auch super in mein Zimmer tragen, wo ich unter die Decke schlüpfte. Wie früher, wenn ich krank war, fischte ich erst die Einlage heraus und dann trank ich die heiße Suppe. Schließlich stellte ich die Tasse ab, legte die Brille daneben und schloss die Augen. So verdammt müde wie heute war ich noch nie in meinem Leben. Doch, schon. Eine Erinnerung an ein fernes Damals durchzuckte mein Gehirn.
Damals.
Als ich nach der OP aus der Narkose aufgewacht war. Da war mein Zustand vollkommen logisch. Jetzt war es nicht nachvollziehbar. Ich hatte bis weit nach Mittag geschlafen, dann wieder im Auto. Das musste längst reichen.
„Bleib liegen Anna", hauchte Ian und strich langsam über meine Wange. Nickend schloss ich die Augen.
„Morgen ist alles wieder besser", murmelte er, bettete meinen Kopf auf seinem Oberarm und legte seinen Unterarm quer über meinen nackten Rücken bis er meine Taille mit den Fingern berührte.
Die andere Hand streichelte durch meine Locken, die nach dem Duschen widerspenstig waren wie eh und je. Strähne für Strähne entwirrte er sie für mich. Nach einer Weile in der ich wie erschlagen neben Ian lag, küsste er federleicht meine Stirn, die Schläfe und zum Schluss meine Wange. Genau dort, wo die Narbe begann und die Haut sich leicht pelzig anfühlte.
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...