Mit einem etwas mulmigen Gefühl fasste ich eine schmutzige Fassade ins Auge. Sie passte perfekt in eine Gegend, in der alles schmuddelig und heruntergekommen aussah. Selbst die wenigen Bäume, die in großen Abständen den Gehweg verschönern sollten und von gelblichem, schütteren Gras umgeben waren, wirkten, als wären sie ihres Standortes bereits seit Jahren überdrüssig.
Die Farbe des Häuserblockes, in dem sich das Tanzprojekt befand, unter Umständen es mal in sonnigem gelb gestrichen worden, blätterte zusammen mit grauem Putz von der Wand. Die einzigen durchsichtigen Fenster in diesem Haus waren die, bei denen die Scheiben fehlten. Alle anderen waren dreckig, blind oder zum Teil zugenagelt. Für mich sah der Block nicht eben vertrauenserweckend aus. Aber es war ja nicht so, dass Ian mich nicht gewarnt hatte.
Die Tür im Erdgeschoss war mit einem Klemmkeil festgestellt und ein Spinnennetz feiner Risse zierte das von Draht durchzogene Sicherheitsglas, das diesen Namen gar nicht verdiente. Schwer vorstellbar, dass hier ein offizielles Projekt der Jugendhilfe untergebracht war.
Ich umklammerte den Gurt meiner Tasche fester und betrat den Hausgang, in dem es seltsam muffig roch. Die Türen des Aufzuges waren mit gelbem Klebeband versiegelt. „Außer Betrieb" hatte ein guter Geist mit krakeliger Schrift auf einen einst weißen Zettel geschrieben. Unwillkürlich lachte ich auf. Als ob jemand bescheuert genug war, in diesem Haus einen Aufzug zu benutzen!
Stumm schickte ich einen Dank an meine Großeltern, dass sie mich davor bewahrt hatten, in einer solchen Gegend aufzuwachsen. Wir hatten nicht viel mehr besessen als unseren Trailer und das Zeug am Leib, dafür aber immer eine frische Meeresbrise. Und einen Besen und einige Putzlappen, beides sehr nützlich, wenn man nicht früher oder später bis zu den Knien im Dreck versinken wollte.
Durch das enge Treppenhaus schraubte ich mich Stockwerk für Stockwerk an vier bis fünf Türen pro Ebene vorbei. Geräusche, die aus den Wohnungen sickern, verrieten, dass das Haus keineswegs so leer war, wie es von unten den Anschein hatte. Im sechsten Stock stoppte ich vor der einzigen Tür dort. Alle anderen Öffnungen waren zugemauert und notdürftig geweißt worden. Eine Klingel gab es nicht und auf mein mehrmaliges Klopfen reagierte niemand. Der Knauf ließ sich aber problemlos drehen und die Tür schwang nach innen auf.
„Hallo?", rief ich, um mich bemerkbar zu machen. Doch keiner nahm von mir Notiz. Abwartend stand ich da und als nach einem weiteren Ruf noch immer niemand auftauchte, um mich zu begrüßen, lud ich mich selbst ein und übertrat zögerlich die Schwelle.
Was früher drei oder vier kleine Appartements gewesen sein mochten, war zu einem großen Tanzstudio zusammengewachsen, sah aber schwer nach Baustelle aus. Glaswände waren eingezogen worden, um einzelne Tanz- und Übungsräume zu schaffen. Trockenmauern, die unverputzt waren und offen liegende Elektroleitungen sowie Fassungen mit kahlen Birnen, die von der Decke baumelten, legten Zeugnis davon ab, dass das Studio noch lange nicht fertig war. Wer immer diesen Stützpunkt geplant hatte, war mehr als ambitioniert. Die Räume hätten der Größe nach locker zu einer renommierten Tanzschule in New York gehören können. Je weiter ich mich voran wagte, desto lauter wurde die klassische Musik, die aus dem hinteren Teil kam.
Hinter dicken Glasscheiben, die einen Teil des Schalls schluckten, bewegte sich ein Paar in absoluter Harmonie zu den Klängen aus riesigen Boxen. Wie Grashalme im Wind bogen und wiegten sich die beiden, hielten dabei immer einen exakten Abstand zueinander, sodass der Tanz erotisch und leidenschaftlich, aber nicht unanständig wirkte. Der Kontrast zwischen dem blonden, breitschultrigen Tänzer und der zierlichen Frau mit der kakaobraunen Haut und dem krausen, dunklen Haar konnte kaum größer sein. Trotzdem waren sie eine perfekte Verkörperung von Einheit und Harmonie, wie Yin und Yang.
Als die Musik verebbte, machte ich sofort auf mich aufmerksam. Ich war ja kein Stalker wie gewisse andere, also zum Beispiel Finn.
Der Tänzer steuerte auf die Tür zu und öffnete sie. Schlagartig war die Musik doppelt so laut wie zuvor.
„Hey. Ich bin Anna. Entschuldigung, dass ich mich selbst reingelassen habe. Aber es gibt keine Klingel und..."
Mit einem dumpfen Ächzen entwich die Luft aus meinen Lungen, als der Mann, bei dem es sich um Nicolai handelte, mich zur Begrüßung umarmte.
„Willkommen in unserem Projekt, Anna", begrüßte er mich mit unverkennbar russischem Akzent.
„Ich bin Nicolai."
Hinter ihm verstummte die Musik und mit leichten Schritten kam auch die Frau auf mich zu. Selbst wenn sie lief, sah sie aus, als würde sie noch immer tanzen. Jede ihrer Bewegungen war weich und feminin.
„Ich bin Zoe", stellte sie sich vor.
„Ich freu mich, dass ich zwischen all den Rüpeln Unterstützung bekomme!"
Ihr Grinsen hatte etwas so Munteres, dass ich trotz meiner Aufregung nicht umhinkam, das Lächeln zu erwidern.
„Wo steckt unser Sozialfall, Nicolai? Kann er nicht einmal pünktlich kommen? Du musst mit ihm reden! Das geht so nicht! Sie ist auch pünktlich! Es kann also nicht am Alter oder der Generation liegen, wie du immer behauptest!" Zur Untermauerung ihrer Worte tippte sie auf ihre Uhr. Nicolai verdrehte die Augen und Zoe guckte ihn deswegen böse an, bevor sie sich wieder mir zuwendete.
„Komm Anna, ich zeig Dir mal, wo du dich umziehen kannst."
Mit wiegenden Schritten lief sie voraus und ich folgte ihr.
„Wow!", entfuhr es mir, als ich den Raum betrat, der als Umkleidekabine fungierte. „Ist ja der Hammer!"
Die Wände waren kalkweiß gestrichen und im Kontrast dazu war jede Tür der Spinde mit einem eigenen Graffiti besprüht. Die einzelnen Bilder ergänzten sich zu einem beeindruckenden Gesamtwerk, das einen riesigen Tanzsaal darstellte, in dem sich Tänzerinnen und Tänzer in ihren Kostümen tummelten. Wer immer das geplant und ausgeführt hatte, verfügte übe beneidenswerte Kreativität. Flamenco-Tänzer, kleine und große Schwäne. Frösche, Hunde, Tiger. Balletttänzerinnen in üppigen Tutus. Und Stepptänzer mit Zylindern und Gamaschen. Charleston-Tänzerinnen aus den späten Zwanzigern, tanzten Hand in Hand mit Rockabilly-Boys und Punks mit üppigen bunten Haarkämmen hielten Damen in Reifröcken im Arm. In meinem Kopf hörte ich den Walzertakt, in dem sie sich drehten und mein Mund stand sicher offen wie bei einem Frosch auf Fliegenfang.
Zoe lächelte stolz wie eine Entenmama.
„Wunderschön, oder? Hat schon Vorteile, wenn man den einen oder anderen Sprayer kennt. Und lieber toben sich die Jungs hier aus, als draußen an den Hausmauern. Für dein Schließfach musst du bitte ein eigenes Schloss besorgen, damit alles sicher eingesperrt ist. Ich hoffe zwar, dass die Kids, die hierherkommen, uns nicht beklauen, aber man muss das Glück nicht herausfordern, oder?"
Ich nickte zustimmend, teilte ihre Meinung aber nicht. Ein Schloss war kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Da konnte sie mal Davis fragen.
„Nicolai meinte, du tanzt schon sehr lange?", wechselte Zoe das Thema und ich nickte.
„Ungefähr seit ich drei bin. Am Anfang nur irische Tänze, die meine Granny mir beigebracht hat, später dann Hiphop und ein bisschen Breakdance und sowas. Mit neun hab ich mit Ballett angefangen."
Interessiert mustert mich Zoe.
„Ungewöhnlich. Die meisten Mädchen, die ich kenne, fangen mit Ballett an oder mit Jazzdance. Oder bleiben beim Straßentanz hängen."
Keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Bei mir war es eben anders. Also zuckte ich mit den Achseln und damit erlahmte das Gespräch, bis Zoe einen neuen Faden aufnahm.
„Okay, Anna. Wenn du umgezogen bist, dann komm bitte in den Saal, wo Nicolai und ich eben getanzt haben. Mal sehen, was du draufhast und wie wir dich überhaupt einsetzen können."
Wieder warf sie mir einen prüfenden Blick zu und ich schluckte. Sie dachte ich sei zu weich. Genau wie Ian. Damit lagen sie sowas von falsch. Ich kam mit allem Möglichen klar.
Als ich die Kabinen verließ, meine Tasche stand offen auf der Bank. Jeder sah auf Anhieb, dass in der Tasche nichts zu holen war.
In ein leises Gespräch vertieft warteten Nicolai und Zoe vor dem Tanzsaal auf mich. Als sie mich kommen hörten, verstummen sie schlagartig. Freundlich professionell sahen sie mich an.
„Gib mir schon mal deine Musik mit, damit wir gleich beginnen können", forderte mich die Dunkelhaarige auf. Verunsichert registrierte ich Zoes Hand, die ausgestreckt vor mir schwebte. Vermutlich rechnete sie mit einem USB-Stick oder sowas. Dabei hatte ich an eigene Musik gar nicht gedacht.
„Ich habe keine mitgebracht", gab ich kleinlaut zu. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam, wenn ich mich hier bewarb. Wie blöd, nicht daran zu denken, dass sie einen Eindruck meines Könnens bekommen wollten.
„Nicht schlimm", beruhigte mich Nicolai.
„Im Internet finden wir sicher die Musik, mit der du dich vorbereitet hast. Oder du nimmst etwas von deinem Mobiltelefon."
Ich schluckte. Ehrlich währte bekanntlich am längsten.
„Ich habe mich nicht wirklich auf ein Vortanzen vorbereitet", gestand ich den beiden Projektleitern leise ein.
„Stell dein Licht nicht immer so unter den Scheffel, Anna. Dass du wenig Zeit hattest, heißt nicht, dass du völlig unvorbereitet bist. Zeig ihnen die Choreo von neulich Abend. Die war super!"
Ein strahlend lächelnder und gut gelaunter Ian kam auf uns zu und Nicolai begrüßte den Neuankömmling mit einem kumpelhaften Handschlag. Die Tasche, die über seiner Schulter hing, ließ Ian aufs Geratewohl neben sich fallen. Am liebsten hätte ich mich zum Sterben gleich neben die Tasche gelegt. Zoe hatte für den Jüngeren mit den grauen Augen nur einen tadelnden Blick übrig, während ich voller Panik überlegte, was zur Hölle ich verbrochen hatte. Karmamäßig war ich nach meinem Treppensturz deutlich im Plus. Ich verstand einfach nicht, wieso das Schicksal mir ständig diesen nervigen Iren vor die Füße spuckte, der mit seinem Tausend-Watt-Grinsen alle um den Finger wickelte. Oder fast alle. Zoe und ihre vor der Brust verschränkten Arme sprachen von Ablehnung und einem gewissen Widerwillen. Ian überging das aber souverän und bugsierte mich an der Schulter in den Saal, wo er die Tür hinter uns schloss.
„Mann, Anna! Dich kann man echt keine Minute alleine lassen!", wisperte er mir zu. „Du fährst das hier grad voll gegen die Wand! Die Zwei nehmen die Sache superernst und sind völlig übermotiviert", murmelte Ian weiter vor sich hin.
„Jetzt mach schon", forderte er dann wieder. Tränen stiegen mir in die Augen.
„Ich hab wirklich nichts vorbereitet", wiederholte ich niedergeschlagen.
Amüsiert funkelte er mich an.
„Tanz wie am Mittwoch und alles wird gut. Vertrau mir."
Mittwoch. Ich fiel ihm in den Arm, als er zur Stereoanlage ging und hielt ihn fest. „Mittwoch?", flüsterte ich eindringlich. „Woher weißt du davon?"
Er zog sein Handy aus der hinteren Hosentasche und wackelte vieldeutig damit vor meinem Gesicht herum.
„Die halbe Uni hat dich inzwischen gesehen. Und einige andere auch, Anna. Dein Tanzvideo verbreitet sich viral auf YouTube!"
„Mein was? Ian, was für ein Video?" Ich zerrte hektisch an seinem Ärmel.
„Och, so eine bisschen verwackelte Aufnahme, die ein Student hochgeladen hat. Floyd20 Oder Flynt21, nennt er sich. Keine Ahnung."
„Finn!", flüsterte ich.
Ian nickte bestätigend.
„Genau! Das ist der Name!"
Die ersten Takte des Songs, den Ian der Stereoanlage entlockte, dröhnten durch den Raum. Ian stoppte ihn mit der Fernbedienung.
„Heb den Daumen, wenn du fertig bist. Dann starte ich deine Musik für dich."
Er zwinkerte mir zu und drehte sich weg. Mein Gehirn weigerte sich, die ganze Situation zu erfassen, in die ich mit Vollgas hineingeschlittert war.
Eins nach dem anderen, mahnte ich mich zur Ruhe. Erstmal musste ich tanzen. Dann war der Zeitpunkt rausfinden, was zum Henker Ian hier machte und der nächste Schritt war...
...Finn finden und töten!
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...