EINUNDVIERZIG

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An meinem Tee zu nippen war in der aktuellen Lage umständlich. Trotzdem versuchte ich es immer wieder, denn das Aroma auf der Zunge und der vertraute Duft in meiner Nase erhoben die Umarmung von Ian von purer Geborgenheit zu einem Zuhause. Wie sehr ich ein solches vermisst hatte, begriff ich erst in diesem Moment, in dem ich es unverhofft nach Wochen und Monaten der stillen Suche an einem Ort fand, an dem ich es nie für möglich gehalten hätte: in einer einfachen und fürsorglichen Umarmung. Und in diesem Moment wurde mir noch eine weitere Tatsache kristallklar, wie das Dach über uns, durch das ich in dunkle Wolkengebirge starrte. Ian war bereits längst eine Tatsache in meinem Leben, wo Finn für mich nur eine Möglichkeit war.

„Bist du hungrig?", erkundigte Ian sich in der zwischen uns anhaltenden Stille, die wegen des dröhnenden Regens keine war. Gründlich beriet ich die Frage mit meinem Magen. Langsam schüttelte ich den Kopf.

„Im Moment nicht, aber das konnte schon noch kommen, wenn ich erstmal zu Hause bin." Um Ian ansehen zu können, hob ich den Kopf ein wenig.

„Wenn du zu Hause bist? Anna, hast du mal rausgesehen? Es schüttet wie verrückt. Das Wasser stand quasi auf der Straße! Willst du nach Hause schwimmen? Dass die Busse im Moment nur annähernd regelmäßig verkehren, würde ich ausschließen!"

„Aber ich muss nach Hause! Ich hab morgen Uni!", stellte ich anklagend fest.

„Ich auch, Anna! Danke, dass du mich daran erinnerst. Bis vor drei Sekunden konnte ich es erfolgreich verdrängen."

Neckend zwickte Ian mich ins Kinn, was schon wieder völlig surreal war.

„So wie ich das sehe, sitzt du über Nacht hier mit mir fest, Rotschopf."

So spät wie Ian immer erst auf dem Gelände ankam, barg das gewisse Schwierigkeiten.

„Aber ich brauch mein Zeug! Meine Bücher und die Notizen und..."

„Mach dir nicht gleich ins Hemd! Wir fahren etwas früher als sonst und ich lass dich am Wohnheim raus. Ist doch kein Stress! Also, Anna, wie sieht es jetzt mit Essen aus?"

Bedächtig nickte ich.

„Ein bisschen was kann ich schon vertragen", stimmte ich zögerlich und mit einem verlegenen Lächeln zu.

„Ist ein bisschen eher eine Familienpizza oder ein Blättchen Salat mit ein paar Krümeln Thunfisch?", erkundigte er sich und schob mich sanft von sich.

„Etwas, das irgendwo dazwischen liegt?", lautete meine Antwort, die ihn zufriedenstellte.

„Allergien? Unverträglichkeiten? Abneigungen?", löcherte er weiter.

Ein Lachen platzte unangekündigt aus mir heraus.

„Bist du der Gleiche, der angesäuert war, weil ich nach seinem Lieblingsessen gefragt habe?"

„Das ist was anderes!" Empört sah er mich an. Wieder musste ich lachen.

„Verstehe, entschuldige. Ganz was anderes!", stichelte ich und erntete dafür ein Kopfschütteln sowie einen sehr beleidigten Blick. Dann stapfte er in die Küche.

Einen Moment überlegte ich, was in dieser unklaren Lage von mir erwartet wurde, dann ging ich ihm nach. Der Anblick seines Rückens und wie Ian an der Arbeitsplatte stand, das hatte etwas Vertrautes und verträumt beobachtete ich, wie er die Oberschränke öffnete, ein Schneidbrett und eine große Schüssel herausnahm. Dann griff er nach einem langen Messer, zog es aus dem Messerblock, schüttelte den Kopf, entschied sich dann für ein anderes.

„Kann ich dir helfen?"

Ian drehte sich zu mir um, seine Augen funkelten im Licht der vielen kleinen Lampen die unter en Hochschränken hingen, und die Küchentheke in einen hell erleuchteten Arbeitsbereich verwandelten.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt