Mit einem schlechten Gewissen griff ich nach dem Hemd und nahm den Kampf mit den Knöpfen auf. Wobei ich froh war, dass es sich um kein Shirt handelte, das ich über den Kopf ziehen musste. Dort pochte noch immer ein dumpfer, aufdringlicher Schmerz, der ein ungutes Gefühl in der Magengegend nicht überdecken konnte. Es war mein Gewissen, das sich da zu Wort meldete und mich plagte. Nicht allein, weil Ian mir ein frischgebügeltes Hemd statt eines Shirts gegeben hatte, das ich unweigerlich zerknautschte, sondern vor allem, weil ich Ian immer wieder mit Davis verglichen hatte. Schweren Herzens musste ich mir eingestehen, dass Ian in der vergangenen halben Stunde eine Menge für mich getan hatte, mit dem ich nicht gerechnet hatte, obwohl er dazu durch nichts verpflichtet war. Leise seufzte ich. Diese neue, fürsorgliche Seite an dem gutaussehenden Iren passte so gut in mein Bild von Typen wie ihm, wie Lakritz in Erdbeerkuchen. Über meinen merkwürdigen Vergleich musste selbst ich schmunzeln. Mein Kopf schien ein bisschen mehr abbekommen zu haben, als ich zunächst dachte.
Um nicht oben ohne dazustehen, falls jemand ohne Vorwarnung ins Zimmer platzte, oder Ian schneller zurückkehrte als erwartet, drehte ich meinen Rücken zur Tür und zog erst einmal nur mein Oberteil aus. Das weiche Hemd in das ich zügig schlüpfte, war mir viel zu weit, reichte zum Glück aber dank der Größe fast bis Mitte Oberschenkel. Mit Mühe fummelte ich die winzigen Knöpfe wieder zu. Nachdem ich diese Mission erfolgreich hinter mir hatte, ließ ich mich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder auf die Matratze sinken, tastete nach den Verschlüssen der Riemchen um meine Knöchel und schob, als ich die Sandalen endlich los war, die Jeans über meine Schenkel. Mit meiner Hose in der Hand stand ich gerade am Fußende, als Ian zurückkam
Einen Moment blieb er in der Tür stehen. Keine Ahnung, was er dort tat. Seine Reglosigkeit löste jedoch eine unbeschreibliche Nervosität in mir aus, die mein Herz hektisch schlagen ließ. Ich schluckte gegen die Trockenheit in meinem Hals. Beobachtete Ian mich vielleicht gerade? Zum wiederholten Male in den vergangenen, ich wusste nicht einmal wieviel Stunden, weil ich mein Handydisplay nicht lesen konnte, verfluchte ich meine Sehschwäche. Wenn Ian mich musterte, dann wüsste ich schon gern, ob es eher meine Narbe war, auf die er sein Augenmerk richtete, oder ob er dem Rest von mir den Hauch einer Chance gab. Ab dem Hals abwärts war ich nicht unbedingt missgestaltet. Gut, ich wäre schon immer gerne ein paar Zentimeter größer gewesen. Im Gesamtbild konnte ich mit meiner Oberweite, langen und schlanken Beinen und einem ansehnlichen Hintern überzeugen. Eigentlich sollte es mir egal sein, aber die Vorstellung, dass Ian mich gerade abcheckte, machte mich verlegen.
Mit zitternden Fingern legte ich die Hose aufs Geratewohl auf dem Bett ab und tastete über die Knopfleiste.
„Hab ich mich verknöpft?", kleidete ich meine Befürchtung, ihm ohne es zu ahnen, einen perfekten Ausblick auf meine hellblaue Unterwäsche zu bieten, in eine unverdächtige Frage.
„Nein", murmelte Ian mit belegter Stimme und ging an mir vorbei zum Kopfende des Bettes. Leises Klirren erklang, als er eine Flasche auf dem Nachtkasten platzierte.
„Ich hab noch siebzehn Minuten Geburtstag. Die muss ich noch ausschöpfen", rechnet er mir dabei vor.
„Willst du auch noch ein Bier? Sonst hätten wir noch den schläfenwarmen Wodka, den ich dir vorhin mitgebracht hab."
Erst war ich unschlüssig, ob ich nicht lieber ins Bett gehen sollte, dann nickte ich aber. Wer wusste, ob ich schlafen konnte mit meiner Verletzung. Ergo konnte ich Ian ebenso gut die letzten Minuten dieses für ihn verkorksten Geburtstages als äußerst dürftiger Ersatz für seine Freundin Gesellschaft leisten.
Es zischte und kurz darauf umschlossen Ians warme Finger mein Handgelenk, als er mir die Flasche in die Hand drückte. An dieser Stelle löste Ians Berührung kein angenehmes Gefühl aus. Mühsam unterdrückte ich den Wunsch über die Haut zu reiben, wo gerade seine Finger unliebsame Erinnerungen heraufbeschworen.
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...