VIER

567 40 48
                                    

Aus einem der Tanzsäle sickerte Hiphop-Musik, als ich die Tür zum Sporttrakt aufzog. Diesem akustischen Wegweiser folgte ich und genoss dabei, wie die Musik sofort durch meine Adern kroch. Es gab kaum etwas, das ich mehr liebte als zu tanzen. Schon immer. Nichts glättete die scharfen Kanten meines Außenseiterdaseins so zuverlässig, wie Beats, Bässe und schnell gerappte Texte. Oder Alkohol. Das war aber ein anderes Thema.
Ich hoffte nur, dass mein Können reichte, um an dem Workshop teilzunehmen. Vorsichtshalber hatte ich mich schon gar nicht für klassischen Tanz angemeldet, sondern nur für diesen Streetdance-Kurs. Dass meine bisherige Tanzschule nicht am oberen Ende der Skala lag, war mir selbst nur zu bewusst. Aber diese Straßensache war einen Versuch wert und wenn ich danach beurteilt wurde, authentisch zu sein, hätte ich den Kurs leiten dürfen. Mehr Straße als mich würde man auf dem ganzen Campus nicht finden.

Ich schlüpfte in meine sündteuren Sneakers, ein Geschenk von Mum und John zum Collegebeginn, das Davis' glühenden Neid und wütendes Gezeter seinerseits nach sich zog, band schnell die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und betrat voller Vorfreude den Tanzsaal. Parkett in einem hellen, warmen Braunton und die unvermeidlichen, voll verspiegelten Wände empfingen mich. Winzige Augen blickten mir durch eine dicke Brille entgegen. Meine Augen. Wenigstens lenkte das schwere Glas von der hässlichen Narbe ab, die sich von meiner Oberlippe über die linke Wange bis knapp unter das Augenlid zieht. Dort knickt sie scharf nach rechts und setzte ihren Weg exakt sechzehn Millimeter Richtung Schläfe fort. Vorsichtig sah ich mich um. Man hatte mich bereits zur Kenntnis genommen.
„Was will die denn hier?", zischte eine Stimme hinter mir und überwältigt von der Feindseligkeit darin sah ich mich nach der Sprecherin um. Das Mädchen, das zuvor neben Ian saß, seine Freundin, fixierte mich mit einem starren Blick aus zusammengekniffenen Augen.
„Keine Ahnung. Wer denn überhaupt?", murrte der Typ hinter ihr.
„Wo steckt Ian?", brummte er dann, ohne eine Antwort abzuwarten. Mir wich das Blut aus den Wangen.

Oh. Mein. Gott.

Es war der Breitschultrige, mit dem Ian sich bei der ersten Vorlesung über den weggeschnappten Sitzplatz amüsiert hatte. Mir blieb nichts erspart!
„Wollte noch eine rauchen", beantwortet Nora seine Frage und stellte eine rote Trinkflasche neben der Tür ab. Genau wie Felicity, die in diesem Moment den Saal betrat, hatte sie Ians Freundin umgezogen und trug nur arschknappe, schwarze Sportshorts. Dazu hatten beide ein bauchfreies Sportoberteil gewählt. Bauchfrei und eng beschrieb die Kleiderordnung aller Mädchen im Saal am besten. Mit meinen knielangen Shorts und dem an der Seite zusammengeknoteten schlicht weißen Shirt fiel ich deutlich aus dem Rahmen. Trotzdem strahlte mich Felicity an, sobald sie mich etwas abseits der anderen Tänzerinnen und Tänzer entdeckte.
„Hi Anna!", grüßte sie mich freundlich mit meinem Spitznamen, den ich ihr bei der Vorstellung genannt hatte. Ians hübsche Freundin starrte erst Felicity dann mich böse an.
„Was hast du mit der zu schaffen? Die wollte Ian schon zwei Mal heute seinen Platz neben mir streitig machen. Wahrscheinlich ist sie lesbisch!"
Ein halbes Lachen schlüpfte über meine Lippen, bevor ich diese durch pure Selbstbeherrschung zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Ich hatte schon vieles zu hören bekommen, aber das war mal was Neues. Kreativ. Etwas, das Davis nicht eingefallen war. Und wieso zweimal? Der Giftzwerg war mir am Morgen gar nicht aufgefallen. Weil ich auf graue Augen fixiert war.

Felicity zuckte desinteressiert mit den Schultern.
„Reg dich ab, Nora. Wenn sie deinen Platz neben Ian will, kannst du meckern!"
Sie sah sich suchend um.
„Wo steckt Ian denn? Wollte er nicht längst hier sein?"
„Rauchen", gaben Nora und der Unbekannte im Chor von sich.
Langsam aber sicher füllte sich der Tanzsaal und ich verlor den Blickkontakt zu den dreien, die offenbar zu Ians Clique gehören. Mehr und mehr Leute quollen herein, die sich alle untereinander kannten. Ich bemühte mich darum, ununterbrochen dezent zu lächeln. Je mehr Studenten sich um Nora, Felicity und Ians namenlosen Freund, scharten, desto mulmiger wurde mir. Ich schien die Einzige zu sein, die neu in der Gruppe war und niemanden kannte.
Kurz darauf betrat Ian den Saal zusammen mit einem Mann mittleren Alters. Seine Haltung und sein Auftreten weisen Ians Begleitung eindeutig als ausgebildeten Tänzer aus.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt