DREI

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Auf den Unterricht folgten laut Plan zwei Freistunden. Bewusst trödelte ich beim Zusammenpacken und beobachtete aus dem Augenwinkel, mit wem sich Ian nach Stundenende unterhielt. Überrascht stellte ich fest, dass Ian meine Sitznachbarin mit einer Umarmung begrüßte und sie ihm einen Kuss auf das stoppelige Kinn drückte. Kurz darauf gesellte sich ein dunkelhaariger Typ zu den beiden. Er klopft Ian auf den Rücken, dann lachten die drei. Felicity warf einen Blick über die Schulter zu mir und rempelte Ian den Ellbogen in die Rippen. Still senkte ich meinen Kopf, um nicht zu sehen, wie sie sich über mich lustig machten.

„Sind sie Brianna Sullivan?", erkundigte sich der Professor, als ich mich an seinem Pult vorbeischlich. Woran hatte mich der Professor nur erkannt? Etwa an meiner Brille und den winzigen Augen hinter den dicken Gläsern? Ich nicke bestätigend, während ich abwartete, dass er weiterredete.
„Sie saßen dafür, dass ihre Sicht eingeschränkt ist, sehr weit hinten. Ist das ein Problem?"
Was für eine bescheuerte Frage. Jemanden, der nur ein Bein hatte, würde er kaum fragen, ob er Schwierigkeiten damit hatte, Treppen zu steigen.
„Wenn sie möchten, kann ich ihnen zukünftig einen Platz in der ersten Reihe reservieren", bot er mir an. Dabei lächelte er freundlich. Ich hätte am liebsten gekotzt. Mir war klar, dass er mir helfen wollte. Nur brauchte ich diese Art Hilfe nicht. Ich war kein bedürftiges Hündchen, das man hätscheln musste!
„Nein, danke", gab ich kopfschüttelnd zurück. „Ich möchte keine Vorzugsbehandlung. Ich werde mich darum bemühen, rechtzeitiger zu erscheinen, dann sollte das zukünftig kein Problem mehr darstellen."
„Wenn Ian O'Brien ihnen weiter Probleme macht, zögern sie aber bitte nicht, mich zu informieren. Ich nehme mich der Sache nur zu gerne an."
Ich nickte meine Zustimmung und trat in den inzwischen fast ausgestorbenen Korridor. Meine Schritte hallten von den Wänden wider.
Ian O'Brien. Definitiv ein irischer Nachname wie meiner. Bei mir erahnte jeder meine keltische Herkunft wegen der ungewöhnlich bleichen Haut, den vielen Sommersprossen und den roten Haaren. Bei Ian hatte ich nichts bemerkt, was auf gemeinsame Wurzeln hinwies.
Als ich das Gebäude verließ und den Glaspalast ansteuerte, der auf der einen Seite die Bibliothek und im anderen Flügel die Mensa beherbergte, hatte der Nieselregen aufgehört und die Wolkendecke hing nicht mehr so niedrig wie am Morgen. Etliche Studenten, die ebenfalls eine Freistunde hatten, saßen in kleinen Gruppen entlang der hohen Fenster, tranken Kaffee oder gönnten sich einen Snack.
Für einen Moment war ich hin und hergerissen, mir ein Sandwich zu holen, verwarf den Gedanken aber wegen meiner angespannten Finanzsituation und Steuertee stattdessen die Rechercheplätze in der Bibliothek an. Ich brauchte am besten sofort eine göttliche Eingebung, was das in der Einführung angesprochene, fächerübergreifende gemeinnützige Projekt anbelangte.
Mal abgesehen davon, dass ich nicht wusste, was der Professor sich inhaltlich vorstellte, war ich gänzlich fremd in der Stadt. Herauszufinden, welcher soziale Träger für mich Verwendung hatte, erschien mir ein paar Herzschläge lang wie eine unüberwindbare Mammutaufgabe. Weder sah ich mich im Frauenhaus, noch bei der Drogenhotline oder in der Armenspeisung. Dafür war es mir aber gelungen mich bei der Recherche im Internet völlig zu verzetteln und seufzend stand ich nach eineinhalb Stunden auf: Obwohl ich den Weg dieses Mal sofort fand, kam ich zu fast spät. Eilig hastete ich auf einen Platz zu. Lernfähig wie ich war, wählte ich einen Sitz am äußersten Rand, wo ich niemandem auf die Füße stieg. Gleichzeitig mit mir griff eine gepflegte Hand nach dem Sitz und eine sportliche Gestalt drängelte sich an mir vorbei.
„Sorry Rotschopf, aber das ist mein Platz!", raunte eine rauchige Stimme. Schon wieder Arschlochalarm, eindeutig! Sprachlos sah ich Ian an.
„Nein, das ist...", setzte ich an.

Er deutete auf ein Mädchen mit herzförmigem Gesicht, hohen Wangenknochen und einer Nase, die aussah wie von der Seite eins eines Werbe-Flyers für Schönheitsoperationen. Für ihre vollen Lippen wurde das Wort Kussmund erfunden. Und auf Seite zwei des Flyers wäre mit Sicherheit ihre Oberweite abgebildet, die auf Grund der schlanken Gestalt des Mädchens mehr auffiel als ein Feuerwerk bei Nacht. Seufzend gestand ich mir ein, dass Ians Argument nicht von der Hand zu weisen war. Wenn diese Schönheit mit den rehbraunen Augen seine Freundin war, hatte sie den Stuhl neben sich vermutlich für ihn reserviert. Geschlagen wendete ich mich ab und landete in der vorletzten Reihe. Dieser O'Brien raubte mir am ersten Tag meinen letzten Nerv. War der Plan nicht, den Alpha-Tieren aus dem Weg zu gehen?
Der Plan ist Scheiße, Anna, gestand ich mir still ein. Aber mal sowas von!
Obwohl ich verärgert war, gelang es mir, mich auf die grobe Stoffgliederung zu konzentrieren, die die Professorin uns wortreich erläuterte. Ein Blick nach der Vorlesung auf meine Uhr und ich stellte fest, dass die Dozentin deutlich überzogen hatte. Heute rannte ich nur meiner Zeit hinterher und von der blieb kaum genug, um hastig mein Sportzeug überzustreifen und zu meinem Workshop zu gelangen.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt