FÜNFZEHN

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Auf dem Rückweg von der Dusche stellte ich fest, dass sich eine Traube von Leuten vor Stellas und meinem Zimmer eingefunden hatte. Leise tuschelnd lauschten Neugierige an der Tür! Indiskreter ging es nicht mehr.
„Tschuldigung, darf ich mal kurz?", fragte ich und drängte mich durch. War schon erfrischend, mal nicht die Begaffte zu sein. Die Annahme verwarf ich, als Worte durch die geschlossene Tür flogen, die lupenrein verständlich waren. Ohne es im Geringsten geahnt zu haben, war ich, wenigstens indirekt, der Anlass für den Menschenauflauf.
„Was hätte ich machen sollen? Sie wollte zur Polizei gehen!", brüllte Stella gerade drinnen. Sie war in diesem Falle ein anderes Wort für Anna, schlussfolgerte ich. Dass die kühle Blonde in einer opernreifen Tonlage schreien konnte, ließ mich verwundert eine Augenbraue heben.
„Und deswegen lädst du sie zu meiner Party ein?"
Eindeutig Ian, der da gerade aus der Haut fuhr. Seine offene und laute Ablehnung meiner Person im Speziellen tat mehr als nur ein wenig weh. Es war eher, als würde jemand ausholen und mir mit voller Wucht einen Baseballschläger vor die Brust knallen. Trotzdem streckte ich tapfer den Arm aus, drehte den Knauf und betrat das Zimmer. Ians Augen wanderten zu mir und weiteten sich, als er mich erkannte. Dann schoss er Stella einen wütenden Blick zu.
„Großartig gemacht! Wirklich toll!", knurrte er und rauschte an mir vorbei.
Tief atmete ich durch.
„Er möchte offenbar nicht, dass ich komme?", stellte ich möglichst emotionslos fest, sah aber, wie die Knöchel der Hand, mit der ich das Duschtuch umklammerte, weiß wurden. Bewusst entkrampfte ich meine Finger, damit Stella nichts von meiner Anspannung bemerkte.
„Er mag es nur nicht, wenn ich mich in Zeug einmische, das mich nichts angeht", nuschelte Stella und sah mich entschuldigend an.
Seine Party, seine Gäste. Das war nur zu verständlich. Schweigend verschanzte ich mich im Kleiderschrank und zog mir was Bequemes an, anschließend hängte ich unbeteiligt mein Handtuch auf. Dann räusperte ich mich umständlich, weil die Worte, die in meiner Kehle drückten, so sperrig waren, dass ich sie kaum herausbrachte.
„Also in Anbetracht der Umstände... ich komm dann lieber nicht mit."
„Versteh ich. Wir finden eine andere Party, wo du dich umhören kannst, Anna. Es gibt jeden Tag irgendwo welche."
Aufmunternd lächelte Stella und zeigte dabei ihre perlweißen Zähne. Hätte ich so breit gelächelt, hätte es ausgesehen wie eine Fratze. Traurig nickte ich vor mich hin, knipste demonstrativ das Licht auf meiner Seite aus und schlüpfte unter den schützenden Kokon meiner Decke. Weiter über diese Party-Sache zu reden, war nicht drin. Erstmal musste ich mit der Tatsache klarkommen, dass ich es schon wieder getan hatte: Mir mit einem winzigen Teil meines Herzens wünschen, jemand würde mich mögen. Wenigstens auf die Art, wie es Kollegen taten. Gemeinsam im Auto sitzen, quatschen. Einander ... akzeptieren.
Mit brennenden Augen starrte ich in die Dunkelheit. Alles um mich verschwamm, obwohl ich die Brille aufhatte. Vorsichtig nahm ich sie ab und legte sie auf das Fensterbrett, wo ich sie auch nachts sofort fand, ohne den Nachtkasten abzuräumen. Eine meiner Tränen rollte dabei über die Wange, tropfte kalt in meine Ohrmuschel. Unauffällig trocknete ich sie mit dem Bettzipfel und drehte Stella den Rücken zu.

Der Freitag kroch zäh dahin. Wie Kaugummi dehnten sich Sekunden und Minuten. Das einzig Gute war, dass ich Ian den ganzen Tag über nicht begegnete. Er schien mit den Vorbereitungen seiner Feier so beschäftigt, dass er nicht mal Zeit hat, seine Vorlesungen zu besuchen.
Abends sah ich Stella eine Weile müßig zu, wie sie durch das Zimmer huschte und sich für die Party aufhübschte. Von Kopf bis Fuß mit schimmernder Lotion eingecremt schlüpfte sie in ein verboten kurzes Kleid, dann holte einen Koffer aus dem Schrank, den sie aufklappte. Im oberen Teil war ein Spiegel angebracht, und im Handumdrehen verwandelte sich ihre Seite des Schreibtisches in einen Schminktisch.
Ihr verschiedenfarbiges Make-up, das sie wie auf einer imaginären Landkarte nach einem System verteilte, das sich mir nicht erschloss, sah zunächst aus wie wahllos hingeworfene Kuhflecken. Aber nur bis sie es verwischte. Danach sah sie aus wie ein Model. Ihre Wangenknochen wirken höher und ihre Nase schmaler und wie gemeißelt. Kurz gab ich mich der Illusion hin, sie könne meine Narbe wie von Zauberhand verschwinden lassen.
Nicht so nachdenken!
Diese Mahnung an mich selbst brachte nichts. Noch immer beobachtete ich, wie sie mit geübten Fingern Lidschatten und Eyeliner auftrug. Ob sie mir auch ausdrucksvollere Augen schminken konnte, die größer wirkten als die eines Maulwurfes?
Seufzend griff ich nach meiner Bürste und fasste meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, den ich zu einem unordentlichen Dutt zusammendrehte. Im Anschluss schlüpfte ich in ein überschnittenes Shirt und Leggins und suchte mein Heil in der Flucht. Die weiteren Vorbereitungen und das Gesamtkunstwerk, das Ian um halb acht abholen würde, wollte ich nicht sehen. Genauso wenig wie Ian. Gleichgültig, wie ich den Vorfall drehte und wendete, oder wie albern mein Gefühl war, hatte mich sein Verhalten verletzt.
Erst als ich im Tanzsaal war, den Weg hinter mir hatte, ohne Ian in die Arme zu laufen, atmete ich etwas freier. Heute Abend waren fast alle Räume leer. Nur im Kleinsten trainierte eine zierliche Asiatin an der Stange. Leise schloss ich die Tür wieder, um sie nicht zu stören, und nahm mir den größten Saal. Warum auch nicht?
Beruhigend plätscherte klassische Musik, die ich mir ausgesucht hatte, aus den Lautsprechern und ich wärmte mich mit viel Beinarbeit dazu auf. Die volle Raumgröße für Sprünge zu nutzen, genoss ich mehr, als ich beschreiben konnte und eine diffuse Sehnsucht griff nach mir. Wie gerne würde ich wieder Spitze tanzen, doch dafür hätte ich mich für klassischen Tanz einschreiben müssen. Der Zug war für mich abgefahren.
Als der nächste Song erklang, lächelte ich. Es war der Hochzeitswalzer unserer Eltern und zu diesem Walzer hatte ich das erste und einzige Mal mit Davis getanzt. Das gehörte zu den wenigen harmonischen Momenten, die er und ich hatten.
„Mit dir zu tanzen ist wie schweben, Anna."
An diesen Satz klammerte ich mich und im Dreivierteltakt wirbelte ich über den Boden, hielt das Monster im Zaum, das geduckt in einer Ecke meines Kopfes saß.
Wir können keine Geschwister sein, Anna. Nie.
Weil er bereits eine Schwester gehabt hatte. Gott. Warum musste das alles nur so kompliziert sein? Ich wollte nie ihren Platz einnehmen. Nur einen Platz. Ich wollte nur, dass Davis mich ein wenig wertschätzte. Akzeptierte. Doris zu ersetzen war nie mein Plan gewesen.
Plötzlich wurde die Musik leiser und verwirrt öffnete ich meine Augen und blinzelte in die Helligkeit.
Mit großen Schritten durchquerte Ian den Saal und kam auf mich zu. Die Haare hatte er ordentlich frisiert und gegelt, damit sie so blieben. Zu seiner schwarzen Jeans trug er ein schlichtes, weißes Shirt und darüber ein offenes schwarzes Hemd, dessen Manschetten Ian bis über die Ellbogen hochgezogen hatte.
„Was machst du denn noch hier unten? Warum bist du noch nicht umgezogen?"
Seine grauen Augen musterten mich vorwurfsvoll.
„Soll ich zu meiner eigenen Party zu spät kommen?"
Er wirkte angefressen, nur verstand ich nicht, warum.
„Du hast erst gestern gesagt...", begann ich, kam aber nicht weiter. Ian fiel mir augenblicklich ins Wort.
„Was habe ich gesagt, Anna?", fragte er, und baute sich im hellen Licht der Strahler vor mir auf. Sein Körper warf dabei vier bedrohliche, verschieden große Schatten auf den Boden.
„Habe ich nur mit einer Silbe behauptet, ich will dich nicht dabeihaben?"
In Gedanken ging ich seinen genauen Wortlaut durch, kam aber nicht drauf. Wie er sich vor mir aufblies und mich anfunkelte, stresste mich. Mein Gehirn hakte aus und mein Herz begann zu rasen. Nervös schluckte ich, bevor ich Ian antworten konnte.
„Nein, eigentlich nicht, aber..."
„Kein eigentlich aber!", brummte er. „Ich habe Stella nur klargemacht, dass sie nicht Leute zu meiner Party einladen kann."
„Für mich klang es...", versuchte ich meine Gedanken erneut in Worte zu fassen, scheiterte aber wieder an seiner aufbrausenden Antwort.
„Verdammt, Anna, kannst du jetzt mal zuhören?", fluchte er und ich zuckte zusammen, weil er mich über die Musik hinweg anschrie.
„Ich hätte dich nur gerne selbst eingeladen, verstehst du?"
Aus großen Augen sah ich ihn an. Nein, verstand ich nicht. Trotzdem tat ich, als wäre es anders und nickte.
Angenervt tippte Ian auf die protzige Uhr, die an seinem Handgelenk funkelte. Ich kannte mich da nicht aus, aber sie war groß und klobig und wirkte sehr edel. Auf dem Ziffernblatt war ein kleines Krönchen zu sehen. Rolex geisterte durch meinen Kopf, beschwören wollte ich es aber nicht.
„Anna, wir müssen in einer viertel Stunde fahren, sonst verpasse ich meine Stripperin."
Ich verstand. Die Attraktion des Abends durfte er nicht versäumen. Das galt in der Welt, in der ich aufgewachsen war und in seiner. Ich warf einen Blick in Richtung der riesigen Spiegelwand.
„Aber ich bin noch nicht geduscht und nicht umgezogen. Und geschminkt auch nicht!", protestierte ich.
Tief holte er Luft, schien sich um Geduld zu bemühen. Seine Stimme klang sanfter, als ich sie je gehört hatte. Ich schrieb das einer gewissen Resignation zu.
„Das sehe ich. Daher würde ich vorschlagen, du beeilst dich, falls du heute noch irgendwas über deinen Finn rausfinden willst. Komm, ich nehme deine Tasche und jetzt lauf, Anna!"
Finn. Oh holy! Ian wollte mir helfen, etwas über ihn rauszufinden? Das kam überraschend.
„Okay", stimmte ich zu und beeilte mich. An der Treppe drehte ich mich nochmal um.
„Danke für deine Einladung."
Ein Lächeln zupfte an Ians Lippen. „Beeilen, Anna. Nicht quatschen!"

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt