NEUNUNDVIERZIG

364 22 9
                                    

„Für dich ist es immer so, oder?", fragte Ian zwischen zwei Bissen seiner Pizza. Ich hatte ihm statt zu asiatischem Essen zu Tiefkühlpizza geraten. Meine Erfahrung sagte mir, dass es viel simpler war, von einem Achtel Pizza abzubeißen, als Reis auf eine Gabel zu schaufeln. Und Ian, dessen Augen noch immer rot geädert waren, hatte meiner Expertise sofort zugestimmt.

„Was ist immer so?", erkundigte ich mich. „Dass mir Pizza schmeckt?"

Er schnaufte leise.

„Stell dich nicht immer blöder, als du bist. Ich meine deine Augen, dass du nur verschwommen siehst. Mich würde das verrückt machen! Warum tust du nichts dagegen? Konnte man es denn nicht operieren?" Verstohlen wischte Ian unter seinen gereizten Augen entlang, wo sich wieder Tränen gesammelt hatten.

„Tut mir echt leid. Das nächste Mal bin ich vorsichtiger mit dem Spray", versuchte ich die Kurve zu kriegen. Die Kurve weg von dem Thema mit den Augen. Und allem was da so dranhing und auch nach Jahren noch schmerzte.

Ian seufzte und legte seine Hand um mein Handgelenk. Automatisch zuckte ich zurück und Ian verstärkte den Griff. Mein Kopf sagte mir, er tat es absichtlich. Um mich aus der Reserve zu locken. Und ich hasste mich dafür, dass es funktionierte.

„Lass los!", zischte ich wütend und versuchte seine Hand abzuschütteln. Seine Finger schlossen sich noch fester.

„Nein, Anna. Ich lass mich nicht abschütteln und bestimmt lass ich dich nicht los, nur weil du glaubst, es wäre einfacher aufzuspringen und wieder davonzustürmen. Ich werde dich genau dann festhalten, wenn du dich am meisten wehrst und es am meisten wehtat. Wenn du dich am meisten fürchtest. Und wenn alles dunkel ist, werden wir ein Licht finden, Anna."

Ohne dass ich die leiseste Chance zur Gegenwehr bekam, zog er mich auf seinen Schoß und drückte mich fest an sich. Seine andere Hand lockerte sich ein wenig und sein Daumen malt Kreise dort, wo mein Puls heftig unter der dünnen Haut meines Handgelenkes raste.

„Wer hat dir nur so schrecklich wehgetan, Anna?", wisperte Ian leise. Seine unendlich sanft ausgesprochenen Worte waren wie ein Vorschlaghammer, rissen Teile der Mauer ein, die ich sorgsam um mich errichtet hatte. Tränen liefen über meine Wangen, aber ich bekam kein Wort heraus. Meine Gedanken waren ein einziger Wirbelsturm, der meine negativen Gefühle in schwindelerregender Geschwindigkeit emporhob und kurz erschien alles leichter. Im nächsten Moment stürzten sie wieder auf mich herab und zerschmetterten mich beinahe mit ihrem Gewicht. Alles was verhinderte, dass ich unter dem Ansturm in tausend Teile zersplittere, war Ians Arm um meinen Körper. Seine Hand lag noch immer ohne Gnade um mein Handgelenk und meine Tränen durchweichten sein Shirt, bis es an meiner Wange klebte. Jeder Schluchzer schmerzte in meiner Kehle, als wäre er mit Stacheldraht umwickelt. Meine Nase war verstopft. Meine Kehle wund. Das Gestell der Brille drückte sich in meinen Nasenrücken und sicher bohrte es sich gerade auch in Ians Brust. Wenn ihm das unangenehm war, ließ er sich jedenfalls davon nichts anmerken, sondern strich mit seiner Hand ein ums andere Mal meinen Rücken auf und ab.

„Davis?" Meine Antwort klang eher wie eine Frage. So leise wie ich den Namen wisperte, war es ein Wunder, dass Ian ihn verstand.

„Dein Stiefbruder?" Jede Wärme war aus Ians Stimme gewichen und machte unterdrücktem Zorn Platz. „Was hat er dir angetan? Er hat dich nicht... missbraucht, oder so?"

Abrupt löste er seine Hand von meinem Handgelenk nur um sie Sekunden später um mein Kinn zu legen und mich zu zwingen, ihn anzusehen. Eine steile Falte hatte sich auf Ians Stirn eingegraben, direkt zwischen den Brauen. Seine Augen musterten mich so aufmerksam, beinahe als würde er versuchen, bis in meine Seele zu blicken, um dort die Antwort auf seine Frage zu finden.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt