EINUNDFÜNFZIG

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Am nächsten Morgen fuhren Ian und ich wieder zusammen zur Uni. Dann sah ich ihn jedoch für den Rest des Tages und auch den darauffolgenden nicht mehr. Seine und meine Vorlesungen überschnitten sich nicht und den Mittwochabend verbrachte er mit Nate, Nora und Felicity beim Training. Keine Gesellschaft, die ich freiwillig suchen würde. Donnerstagabend half er bei seiner Mum aus, der eine Bedienung ausgefallen ist.

Freitag hatten wir auch kaum Zeit, mehr als ein paar Worte miteinander zu wechseln, bevor Ian sich ausnahmsweise auf die Minute pünktlich auf den Weg machte, um zum Projekt zu fahren. Auf meinen Vorschlag, ich könnte ihn dort abholen reagierte er eher unwillig.

„Ne, lass mal Anna. Ich hab hinterher noch was vor. Wir sehen uns Samstag, okay?"

Diesmal war ich es, die den Kopf schüttelte. Samstag war ich von zwölf bis drei in der Bücherei eingeteilt, vorher einkaufen und die Wäsche. Anschließend musste ich zum Projekt und dann waren da noch diese Jungs, die sich nach meiner Stunde mit mir treffen wollten.

Nun war es Ian, der unbegeistert dreinblickte.

„Du holst Jungs von der Straße ins Projekt?"

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ist das nicht der Sinn und Zweck des Ganzen?"

„Schon, aber eigentlich... Das ist Nicolais Aufgabe. Und die von Biscuit und mir. Nicht deine. Kümmere dich um die Mädchen. Das reicht."

„Hm, ach so. Das war mir nicht klar, dass es da eine Rollenverteilung gibt. Dann kannst du dich ja Samstag mit den Typen befassen", schlug ich vor und ärgerte mich hinterher über meine defensive Haltung. Vor ein paar Tagen war ich sauer auf Ian und konnte ihn anschreien, jetzt schaffte ich es nicht mal ihm ins Gesicht zu sagen, was ich von dem Unfug hielt, den er von sich gab. Wo war diese kleine lodernde Flamme hin, die vor kurzem in mir aufgeflackert war? Schon wieder erloschen?

„Nein, so war es nicht gemeint, Anna. Ich will nur nicht, dass du unter die Räder kommst, okay? Du bist süß und freundlich. Ich will nicht, dass dir etwas passiert."

„Und die Jungs von der Straße sind alle böse und hundsgemein", seufzte ich. „Alles Unmenschen, sag ich dir. Nichts als Sex und Drogen und Waffen im Kopf. Ständig in Delikte verwickelt und alle Nase lang stand die Polizei vor der Tür. Und dann erst diese sinnlose Gewalt, Ian!" Dramatisch reiße ich die Augen auf und krümme meine Finger zu Klauen. „Da machst du dir kein Bild davon! Sicher hatten diese Typen gar nicht daran gedacht zu tanzen, sondern mich in einem vollverglasten Raum zu vergewaltigen, dann meine Leiche zu zerstückeln und mich bröckchenweise aus dem Fenster zu werfen. Und Nicolai hätte hilflos zugesehen und Zoe weinend die Hände vors Gesicht geschlagen. Wach mal auf Ian. Niemand ist nur gut. Oder nur böse. Die können heute Mittag eine Tanke überfallen und trotzdem heißt das nicht zwangsweise, dass sie mir Samstag auch nur ein Haar krümmen. Mal abgesehen davon, dass meine Haare ohnehin schon, naja, du weißt, ein wilder Haufen eben."

Mit dem letzten Satz entlockte ich Ian ein winziges Grinsen, das sich bedenklich ausbreitete.

„Ich steh auf deine Haare, Anna. Auf diese hier..." Er streicht mir die Locken aus dem Gesicht. „und auf die anderen auch." Nicht rot werden. Jetzt nur nicht wieder rot werden. Er redet sicher nur über meine Beinbehaarung. Scheiße. Sofort verwandelt sich meine helle Haut wieder in einen blinkenden Feuermelder. Warum musste er immer wieder solches Zeug sagen?

„Pass auf dich auf, Anna, okay? Wir sehen uns morgen Abend im Studio."

Er küsste mich kurz, dann war er weg und ich stand mitten auf dem Campus und sah seinem Rücken hinterher.

Der Freitag und auch der Samstag vergingen wie im Flug, was nicht zu Letzt daran lag, dass ich mich endlich einmal überwand, ein paar Telefonate zu führen die längst überfällig waren. Granny und Grandpa freuten sich wie verrückt, von mir zu hören und ich erzählte ihnen haarklein alles, was sich die letzten Tage ereignet hatte.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt