EINUNDDREISSIG

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Die Empore schien auf dem Meer der Tanzenden dahin zu wogen. Mal neigte sie sich zur einen, dann wieder zur anderen Seite, während mein letzter Drink von meinem Magen in meine Blutbahn sickerte und dann gnadenlos hinauf in mein Gehirn schoss. Mit der Schulter rempelte ich gegen eine Wand. Nein, gegen Ian, der daraufhin leise fluchte.

„Herrgott, Anna! Wir müssen uns beeilen. Wir kriegen einen Haufen Ärger, wenn die Bullen hier auftauchen. Reiß dich bitte zusammen!"

„Schuldigung", nuschelte ich. „Hab Gleichgewichtsprobleme. Also mehr als sonst."

„Was du nicht sagst, Annabanana", frotzelte Ian.

Einer seiner kräftigen Arme stützte mich und plötzlich hörte die Empore auch auf zu schwanken.

„Komm, wir bringen dich mal an die frische Luft", schlug Ian fürsorglicher vor, als ich es verdient hatte. Und überhaupt! Ich wollte nicht an die Luft. Hier war Musik, mein Cocktail war noch nicht leer. Und ich war erregt. Der Typ hätte sicher etwas dagegen getan. Früher oder später. Bevor Ian ihm seine Nase gebrochen hatte. Keine Ahnung warum er das getan hatte!

„Erst versaust du mir mein Date und jetzt krieg ich nicht mal Sex", beklagte ich mich weinerlich über den Schallpegel hinweg.

„Das meinst du jetzt nicht ernst, Anna? Du kanntest den Typen nicht mal!" Ians Empörung war beinahe lustig. Ich sah schlecht, hören konnte ich aber sehr gut und ich kannte die Gerüchte über ihn und all die Mädchen, über die wilden Partys. Da brauchte er mir jetzt nicht mir scheinheiliger Doppelmoral kommen.

„Zumindest weiß ich seinen Namen! Dylan!" Behauptete ich jetzt mal. Könnte auch David gewesen sein. Oder Devon? Egal. Ian wusste es nicht besser als ich, im Grunde konnte ich ihm entsprechend alles erzählen.

Ruckartig blieb Ian stehen. Oh, oh, gar nicht gut. Das gefiel mein Magen nicht. Hektisch hob ich die Hand, presste sie auf meinen Mund, atmete angestrengt durch die Nase.

„Ja, jetzt noch. Aber morgen früh nicht mehr", erklärte Ian mir im Brustton absoluter Überzeugung. „Glaub mir, Anna, das ist ein Scheißgefühl, in einem fremden Bett aufzuwachen, ohne Plan, wie man dorthin gekommen ist."

Ich wollte Sex und was bekam ich? Einen nervigen überbesorgten Iren und als ob das nicht reichte, noch einen handfesten Würgereiz.

„Ist dir schlecht?" Oh, ein überbesorgter irischer Blitzmerker!

„Bisschen", presste ich an der vorgehaltenen Hand vorbei und ließ mich von Ian nach draußen führen.

Wie ein altes Fahrrad lehnte Ian mich vor der Tür an einen Baum.

„Atme ein paar Mal durch, okay? Dann wird es besser."
Versuchte ich brav. Klappte nur nicht! Von all dem Sauerstoff, der sich mit dem Alkohol in meiner Blutbahn mischte, wurde es eher schlimmer. Schluckend wendete ich mich ab.
„Geh weg!", flehte ich in meinem Elend, doch Ian ließ sich nicht abschütteln. Sanft hielt er meine Haare zurück, stützte mich, während mein Magen den irritierenden Inhalt hochwürgte. Das lag bestimmt an der blöden Kirsche in meinem ersten Cosmo. Die hatte da einfach nichts verloren!

„Besser?", fragte Ian mich nach einer Weile. Statt einer Antwort, würgte ich den nächsten Schwall Alkohol hoch.

„Anna?", fragte er besorgt. „Bist du okay?"

Mühsam nickte ich.

„Ja", schwindelte ich und meine Stimme klang etwas rau.

„Hier." Ian reichte mir ein Taschentuch und zittrig wischte ich über meinen Mund. Das half nur leider nicht gegen den ekligen Geschmack in meinem Mund. Und auch nicht gegen den nagenden Hunger, der sich einstellte, jetzt, wo mein Magen leer war.

„Komm, ich ruf uns ein Taxi."

„Ich bin aber müde", jammerte ich leise und lehnte mich gegen seinen warmen Körper.

„Und das heißt was, Anna? Dass du hier auf der Parkbank schlafen willst? Das Taxi ist gleich da", versprach Ian und geistlos nickte ich.

„Ich hab Hunger. Ich will Nutellabrot", behauptete ich im nächsten Augenblick. Leise gluckste Ian.

„Wir sind gleich zu Hause, Rotschopf. Dann mach ich dir, was immer du willst."

„Aber ich will jetzt Nutella", quengelte ich, was Ian ein Schnauben entlockte.

„Weißt du, wie anstrengend du bist?" Komisch. So wie er das sagte, klang es gar nicht mal abfällig, eher ein bisschen erschöpft, aber trotzdem freundlich und belustigt. Langsam ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken und schloss die Augen. Mann, war ich im Eimer.

„Hey, nicht schlafen, Rotschopf. Unser Taxi kommt." Sanft schüttelte Ian mich. Sofort wurde mir wieder schlecht. Nur gut, dass mein Magen leer war.

„Ich will aber schlafen!", bockte ich wie ein Kleinkind.

„Und dein Nutella-Brot?", stichelte Ian leise.

Okay, das waren starke Argumente. Mühsam sortierte ich meine Beine auf dem Gehsteig, aber ich kam immer wieder aus dem Tritt. Zum Glück hatte ich meinen irischen Schutzengel, der mich aufrecht hielt und verhinderte, dass ich mir die Knöchel brach.

Das Taxi stoppte vor einem Wohnhaus irgendwo in einer schäbigen Ecke der Stadt, die gar nicht zu Ians teurem Auto und seiner Kleidung passte. Er steckte seinen Schlüssel in eine schrabbelige Tür, von der der hellgrüne Lack herunterblätterte, drückte diese auf und mit wackligen Knien betrat ich den düsteren Hausflur. Drei Stufen führten zu einer Wohnung im Hochparterre. zu diesen führte Ian mich.

„Setz dich erstmal und zieh die Schuhe aus, Anna. Mit den Dingern schaffst du es sonst bis morgen Früh nicht in den vierten Stock." Seine gedämpfte Stimme hallte in dem klammen Gemäuer wider. Weil sein Vorschlag vernünftig war, schlüpfte ich aus den Riemchen und streifte die Schuhe ab.

Aufmerksam wie er war, half Ian mir auf die Füße, dann nahm er meine Schuhe. „Diese Teile sind verdammt sexy", stellte Ian fest, als er sie hochhob. Als ich zu Ian hinaufblickte, begann wieder alles zu schwanken und vorsichtshalber legte ich meine Hand auf das dunkle Holzgeländer, das die Treppe flankierte. Schlecht war mir auch schon wieder. Diesmal vor Hunger. Die Steinstufen waren kalt unter meinen bloßen Füßen und wir brauchten ewig, um die langen Treppenabsätze zu überwinden. Notiz an mein Ich: Finger weg von Unbekannten, die Cocktails spendierten und ihre Komplimente dick wie Spachtelmasse auftrugen.

„Grün", hauchte Ian plötzlich hinter mir.

„Was?", fragte ich dämlich und blickte vorsichtig über meine Schulter. Vor Treppen hatte ich einen Heidenrespekt und gerade wirklich Gleichgewichtsstörungen. Dass ich direkt in Ians Augen blickte, der hinter mir auf der schmalen Treppe stand, machte die Sache noch schlimmer, denn meine Knie wurden zu Gummi, so wie er mich gerade ansah. Seine Hand strich mir die inzwischen wirren Haare aus dem Gesicht.

„Meine Lieblingsfarbe ist grün, Anna. Und ich liebe Nutella auf Pancakes." Intensiv sah er mich an. „Und wenn du nicht gekotzt hättest, würde ich dich vermutlich jetzt küssen", wisperte er mit einem bedauernden Lächeln, das mein Herz zum Aussetzen brachte.

Ian zu küssen hielt ich in diesem Augenblick wirklich für eine tolle Idee und seine Argumente dagegen interessierten mich nicht die Bohne. Ohne zu zögern, mit dem Mut einer Betrunkenen, drückte ich meinen Mund auf seine sinnlichen Lippen. Vielleicht ein wenig zu stürmisch, denn Ian schwankte gefährlich auf seiner Stufe. Seine Hand rutschte in meinen Nacken und stöhnend erwiderte er den Kuss, der für meinen trunkenen Sinn viel zu kurz ausfiel.

„Du schmeckst nach Kotze, Rotschopf", stellte Ian trocken fest, als er sich sanft aus meinem Klammergriff befreite. „Du solltest Zähne putzen." In diesem Augenblick wurde mir klar, dass die Ideen einer Betrunkenen möglicherweise nicht immer die allerbesten waren. Beschämt senkte ich den Blick und konzentrierte mich darauf, den Weg die Treppe hinauf fortzusetzen.

Imobersten Stock schloss Ian eine Tür auf und sofort schlug mir der Geruch nachHolzrauch entgegen, der für Ian so charakteristisch war. Nach der Helligkeitdes Treppenhauses brauchte ich einen Moment, um mich in dem Streifen dämmrigenLichtes zurecht zu finden, das mich im Inneren der Wohnung umgab und von linksdurch eine geöffnete Tür in den kleinen Eingangsflur fiel. Erleichtert endlichangekommen zu sein, wo auch immer wir uns befanden, gab meine Knie nach undmein Körper quittierte den Dienst.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt