ELF

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Nach meinem Vortanzen trat ich unsicher zu den anderen hinaus und versuchte, etwas in ihren Gesichtern zu erkennen. Etwas, das mir einen Anhalt gab, wie sie meine Leistung einschätzten. In den Mienen sah ich nur kühle Professionalität. Himmel, Arsch und Zwirn! Das war ein Sozialprojekt, für das ich mich bewarb, nicht das Russische Staatsballett!
„Du kannst dich umziehen. Wir melden uns bei dir", beschied mich Nicolai kurz und bündig. Was hieß das genau? Ich war schlecht? Ein kühles Lächeln folgte seinem Satz und ohne eine Erklärung, wendete er sich an Ian. „Und nun zu dir, Freundchen. Ins Büro und zwar flott! Deine Sozialstunden leisten sich nicht von alleine ab."
Murrend folgte Ian dem Russen und überrascht starrte ich den beiden nach. Hatte der Blonde gerade wirklich von Sozialstunden gesprochen? Dieser Ian schien ein ganz schönes Früchtchen zu sein.
„Du findest allein raus, nicht wahr? Herein hast du es auch geschafft. Ich habe morgen einen Auftritt, ich würde gerne meine Choreo noch einmal durchgehen, bevor ich auf der Bühne meinen rechten Arm mit dem linken Fuß verwechsle und dann vor Schreck brasilianische Volkslieder rückwärts singe."
Kein „wir sehen uns", kein „bis nächste Woche". Dabei hatte die Begrüßung der beiden so vielversprechend geklungen.
Nach einer kurzen Dusche, zu sehr ins Schwitzen gekommen war ich gar nicht, verließ ich die Umkleide. Wie ein geprügelter Hund schlich ich die Treppe runter. Hinter einer Tür im Vierten wurde lautstark gestritten. Im Zweiten flog mir ein Müllbeutel vor die Füße, den eine mürrische Frau vor die Wohnungstür warf.
Dann stand ich wieder vor dem Haus. Allmählich setzte die Dämmerung ein. Die Beleuchtung des Basketballfeldes neben dem Haus malte gespenstische Schatten auf den Weg, die sich immer dann bewegten, wenn der Wind durch die Bäume strich.
Ein paar Jungs und Mädchen saßen auf der Lehne der Bänke, die das Spielfeld einrahmten, die Füße auf der Sitzfläche abgestellt. Beachtung schenkte mir keiner von ihnen. Sie zuckten womöglich nicht einmal, wenn ich plötzlich um Hilfe schrie.
Zielstrebig marschierte ich die Straße runter. Mit meinen Jogginghosen und dem ausgeleierten Hoodie, den ich trug, fügte ich mich nahtlos in das Bild der Leute ein, denen ich begegnete. Nur meine leuchtend roten Haare fielen auf und zogen den einen oder anderen Blick an, während ich die zwei Blocks bis zur Busstation lief und mich dabei fragte, wieso um alles in der Welt Ian Sozialstunden aufgebrummt bekommen hatte. Da musste er schon mehr angestellt haben, als eine Packung Kaugummi zu klauen.
Lautes Hupen ließ mich zusammenzucken. Als ich den Kopf hob, fuhr ein schwarzer Mercedes mit dunkel getönten Scheiben langsam neben mir her. Gar nicht gut, fand mein Herz und klopfte warnend. Meine Hände antworteten mit einem aufgeregten Zittern. Während der Fahrer die Fensterscheibe runterließ, fragte ich mich, ob ich nicht die besagten Beine in die Hand nahm und wegrannte. In Sekundenbruchteilen entschied ich mich dagegen. Bei den PS, die unter der Haube des Wagens grollten, hatte ich keine Chance zur Flucht. Vorsichtig fasste ich in meine Hosentasche und umklammerte das Döschen Reizgas darin, bevor ich meine Schritte nochmal beschleunigte und mir den Anschein gab, ich hätte den dunklen Wagen nicht bemerkt. Der Motor des Wagens kam mit einem satten Grollen auf Touren, dann rollte er wieder nahezu geräuschlos neben mir dahin.
„Anna, was machst du hier?", fuhr mich eine dunkle Stimme aus dem Inneren des Wagens an.
„Hast du Todessehnsucht oder was? Wieso rennst du im Dunkeln allein herum?"
Zum ersten Mal durchfuhr mich Erleichterung beim Anblick der mittlerweile vertrauten grauen Augen, die durch die heruntergefahrene Scheibe zu mir starrten.
Ian bremste und lehnte sich herüber, um mir die Tür zu öffnen. „Na komm schon, Rotschopf. Steig ein", befahl er und seine Stimme klang, wenn überhaupt, nur eine schmale Spur freundlicher als zuvor.
„Ne danke, lass mal. Ich geh gern zu Fuß!", gab ich zurück und lief weiter. Ich war ja nicht bescheuert ja nicht und stieg zu jemandem ins Auto, der vorbestraft war.
Ein Stück voraus neben meinem Busstopp bremste Ian den Wagen erneut und wartete, dass ich näherkam.
„Anna, du steigst jetzt in diesen Wagen! Entweder freiwillig, oder ich werfe dich in den Kofferraum!", blökte Ian aus dem Fenster. Seine Stimme hatte jede Freundlichkeit verloren. In seinen rauchgrauen Augen tobte ein Sturm. Er war in der Lage und setzte diese Drohung um, mahnte meine innere Stimme leise. Ebenso warnte mich die gleiche leise Stimme, dass es möglicherweise wirklich nicht die beste Idee war, hier allein im Dunkeln an einem mit Edding beschmierten Buswartehäuschen zu stehen. Noch weniger wollte ich neben Ian in diesem sündteuren Auto sitzen und mich mit ihm unterhalten oder in seinen nächsten Diebstahl oder sonst was verwickeln lassen.
„Steig jetzt in das verdammte Auto!", herrschte Ian mich an. Seine Augen sprühten Blitze, als er aus dem Wagen stieg und diesen umrundete. Wie vorausgesehen interessierte sich kein Schwein für die Auseinandersetzung zwischen uns oder dafür, dass Ian mir, einer armen arglosen Passantin, die Tasche von der Schulter riss achtlos auf die Rückbank warf.
„Wird es jetzt bald?"
Drohend baute Ian sich vor mir auf und kreuzte die Hände vor der Brust. Schritt für Schritt drängte er mich rückwärts Richtung Auto. Seine Miene ließ keinen Raum mehr für Diskussionen. Rasch wägte ich ab, ob ich das Reizgas verwenden und Ian einen Denkzettel verpassen sollte, entschied mich aber dagegen. Falls er nicht auf direktem Wege zum College fuhr, konnte ich ihm das Zeug an einer Ampel noch immer in die Augen pusten. Vorausgesetzt, ich reizte ihn jetzt nicht so sehr, dass er seine Drohung, mich in den Kofferraum zu packen, wahrmachte!
„Anschnallen!", bellte er schon, als ich noch den Kopf einzog und mich vorsichtig auf den butterweichen Ledersitz schob. Sofort kam ich seiner Aufforderung nach und ließ den Gurt einrasten.
Zufrieden nickte er und fädelte sich in den um diese Zeit sehr übersichtlichen Verkehr ein. Leise Hiphop-Musik klang aus dem Lautsprecher. Travis Scott vielleicht. Sicher war ich aber nicht.
Unschlüssig, was ich von der Entwicklung halten sollte, dass ich ausgerechnet neben Ian O'Brien in einer Luxuskarosse saß, zupfte ich ein wenig verlegen an den weißen Streifen meiner Jogginghose. Im Grunde fand ich es gar nicht mehr übel, mir nicht die Beine in den Bauch zu stehen, bis ein überfüllter Bus eintraf, in dem man eingequetscht zwischen miefiger Kleidung und zu selten gewaschenen Körpern von Halt zu Halt holperte. Immer in der Hoffnung auf ein Näschen voll frischer Luft, wenn sich die Türen öffneten und Aussteigende mit Achselschweiß ihren Platz an Einsteigende mit Fußkäse oder fettigen Haaren abgaben.
Man konnte über Ian denken was man wollte, in meinem Falle war das wenig Gutes, gepflegt war er vom Scheitel bis zur Sohle. Die hellbraunen Haare wirkten weich und frisch gewaschen, seine Kleidung schien sauber und die Hosen waren nur gerade so zerrissen, dass es als modisch durchging. Selbst sein T-Shirt war gebügelt. Und wie immer roch er ein kleinwenig nach Rauch, vor allem aber nach ... Sauberkeit.

„Eine Ahnung, wer dieser Finn ist?", fragte Ian aus dem Nichts und ich zuckte zusammen. Einen Augenblick zögerte ich mit der Antwort, knetete ratlos meine Hände, sah zu, wie die Stadt am Fenster vorbeizog.
„Nein, nicht wirklich", gab ich dann zu. „Kennst du ihn vielleicht?"
„Wieso ausgerechnet ich?" Erstaunt zog Ian die Augenbrauen hoch bis zu seinen hellbraunen Ponyfransen.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Könnte doch sein? Du wirkst wie jemand, der beliebt ist und eine Menge Leute kennt."
Sein rechter Mundwinkel hob sich ein wenig, als er kurz zu mir sah.
„Könnt schon sein", bestätigte er meine Vermutung.
„An einen Finn erinnere ich mich gerade nicht."
Von seiner Antwort war ich zugegebenermaßen enttäuscht.
„Kommst du zu der Party heute Abend?", wechselte Ian abrupt das Thema und sofort fühlte ich mich dezent verarscht. Ich saß mit feuchten Haaren, die sich ringelten wie ein Schweineschwänzchen, in Sportklamotten auf dem Beifahrersitz und er fragte, ob ich heute auf eine Party ging?
„Sehe ich denn so aus?", patzte ich ihn an.
Er schenkte mir wieder einen kurzen, diesmal abschätzigen Blick, der auf meiner Brille, der Narbe und dann an meiner Kleidung hängen blieb.
„Nö, könnt aber noch werden", mutmaßte er knapp.
Kurz darauf hielten wir am hinteren Parkplatz der Uni. Auch wenn mich die Frage nach der Party geärgert hatte, hielt ich mir vor Augen, dass ich mit dem Bus noch auf halbem Weg wäre. Und dass nett es von Ian war, mich direkt an dem Eingang abzusetzen, der dem Wohnheim am nächsten lag. Dementsprechend rang ich mir ein zaghaftes Lächeln ab, damit die Narbe meine Wange nicht auffällig in zwei Hügel und ein tiefes Tal zerschnitt. Als ich ausstieg, murmelte ein hoffentlich freundliches „Danke für Mitnehmen", und nahm meine Tasche vom Rücksitz. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, lehnte Ian sich zum Fenster herüber.
„Anna?", klang seine Stimme mahnend durch das heruntergelassene Fenster. „Kein Wort zu irgendjemandem, dass wir uns beim FSDP gesehen haben. Auch nicht zu Stella oder deinem Finn. Sonst ist das Tanzvideo dein kleinstes Problem."
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er davon und ich ließ die unverhohlene Drohung sacken, während seine Rücklichter immer kleiner wurden und verschwanden, als er abbog. Für einen Moment hatte ich gedacht, er hätte mich an der Straße aufgelesen, weil er netter war, als zunächst angenommen. Oder um zu verhindern, dass mir etwas zustieß. So konnte man sich irren. Er wollte bloß seine eigene Haut retten.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt