Der nächste Morgen war komisch. Komisch im Sinne von merkwürdig; nicht lustig. Carter wich meinem Blick kategorisch aus, dafür wanderte der von Elaine stets zwischen Carter und mir hin und her. Über das warum wollte ich lieber nicht nachdenken. Gut möglich, dass sie was mitbekommen hatte. Warum nicht? Ich war von Carters Alptraum geweckt worden. Gut möglich, dass sie ebenfalls wachgeworden war und gesehen hatte, wo Carters Hände sich rumgetrieben hatten. Am besten legte ich das, was gestern Nacht passiert war, in meine neue Schublade mit der Aufschrift „Sexuelle Erfahrungen, an die im mich nicht erinnern will", sperrte ab und warf den Schlüssel weg. Oder in das Kästchen für „Wankelmütigkeit, die ich später bereue".
Nicht mehr dran denken!
Einfach nur Carter durch das Lazarett folgen und hoffen, dass er nicht so kopflos war wie ich. Was nach einem guten Plan klang, war keiner, denn was immer Carter tat, mein Blick huschte immer wieder zu seinen gepflegten Händen mit den kurz geschnittenen, sauber gefeilten Fingernägeln. Ständig ertappte ich mich dabei, wie ich versuchte einen Blick auf die Handflächen zu erhaschen, die sich so toll auf meiner Haut angefühlt hatten. Notiz an mich: sollte ich mich in absehbarer Zeit auf einen Typen einlassen, dann nur auf einen mit echten Männerhänden.
Wenig später stellte ich fest, dass Chirurgen und Anästhesisten mein Kriterium nicht erfüllten. Dr. Baines, der mich in den Dornröschenschlaf versetzen sollte, war zwar für sein Alter ganz schmuck, aber weder hatte er Schwielen an den Händen noch war seine Haut rau. Wenn ich von ihm auf andere Vertreter dieser Berufsgruppe schließen durfte, waren die Anästhesisten schon mal aus dem Rennen.
Dr. Harveys Hände erfüllten das Klischee der Chirurgen und Klavierspieler. Ich glaubte sogar, seine Hände waren eine Art Prototyp. Lange, feingliedrige Finger gruppieren sich um einen geradezu filigranen Handteller und trotzdem war sein Händedruck so kräftig, dass es mir die Tränen in die Augen trieb, als er sich mir vorstellte. Mein Erstkontakt mit ihm war durch und durch positiv, denn die wichtigsten Attribute, damit ich ihm meine Augen anvertrauen konnte, brachte er mit. Ob er leicht angegraute Schläfen hatte oder tiefe Furchen in der Stirn, wen kümmerte das schon. Wichtig war, dass er zum Beispiel die richtige Akte hatte und genau wusste, was Dr. Eisenhower und Dr. Klein mit mir besprochen hatten.
„Die unterschiedlichen Vorgehensweisen wurden Ihnen bereits nahegebracht. Wir sollten jetzt noch klären, für welches Vorgehen Sie sich entschieden haben."
Tief holte ich Luft.
„Ich würde gerne beide Augen machen lassen."
Dr. Harvey nickte.
„Gut, dann beide Augen beide Linsen", notierte er.
„Und auch lasern."
Er sah von seinen Papieren auf.
„Ist das nicht genau das, was Sie nicht wollten?"
„Doch, schon, aber wie es aussieht, setze ich dieses Semester ohnehin in den Sand, dann können wir auch gleich Nägel mit Köpfen machen."
Wieder nickte er und notierte ein paar Einzelheiten.
„Das wird Ihren Aufenthalt ein wenig verlängern, weil wir uns um eine entsprechende Sehhilfe bemühen müssen. Sie könnten, wenn sie nur ein Auge behandeln lassen, durch eines der Gläser noch sehen wie bisher. Nach der OP wird diese Strategie nicht funktionieren. Ich werde gleich mit einer der Schwestern reden, damit sie ihre Brille an den Optiker schickt. Sobald wir die definitiven Werte haben werden für sie gleich Gläser beauftragt."
„Okay, und was ist ein bisschen verlängern?"
„Ich meine, Dienstag oder Mittwoch könnte es werden. Aber das Wichtigste ist nicht, wann sie das Krankenhaus verlassen, sondern, dass sie bis dahin gut versorgt sind, nicht wahr? Haben Sie sonst noch Fragen?"
„Nein, erstmal nicht, danke."
„Sehr gut, dann lassen wir Sie mal auspacken und ankommen. Später wird Schwester Gloria bei Ihnen vorbeischauen und Ihnen Blut abnehmen. Wir machen noch ein EKG und sehen uns ihren Blutdruck an. Dr. Eisenhower wird sich noch um ein paar Werte bezüglich ihrer Augen bemühen. Und morgen früh um neun geht es los."
Die genannte Uhrzeit war wie ein kleiner Fixstern für mich. Egal, was morgen passierte, nach der Narkose war es vorbei. Alles, was bis dahin passierte, war nur noch ein Teil des Weges, den ich an der Seite von Ärzten und Schwestern bestreiten musste. Diesen Teil konnte mir niemand mehr abnehmen oder leichter machen, ich musste ihn allein gehen.
Vielleicht war das Nicht du, das Carter gestern geäußert hatte, genau ein solches: Es gab nichts, was ich für ihn tun konnte, weil es etwas war, das er nur mit sich ausmachen musste. Gut möglich, dass ich aufhören sollte, über Carter nachzudenken. Er war gestern in einem Ausnahmezustand. Alles, was passiert war, waren ein paar Berührungen in einem schwachen Moment. Nichts, was man überbewerten und bis ins Detail analysieren sollte. Nichts, was mir schlaflose Nächte bescheren sollte.
Als ich am nächsten Morgen nüchtern und in einem Krankenhaushemd samt meinem Bett aus dem Zimmer gefahren wurde, flankiert von einer Schwester und einem Tropf, der meinen Zugang offenhielt, lehnte Carter an der Wand vor meinem Zimmer.
„Hey! Guten Morgen", begrüßte er mich. Die Schwester stoppte und dann begrüßen sich die beiden mit einer Umarmung. Gloria. Bei mir dämmerte etwas. Einer der Namen, die Elaine aufgezählt hatte. Jetzt musterte ich sie mit anderen Augen als gestern bei der Spätschicht. Sie hatte Klasse. Das musste man neidlos anerkennen. Und Carter hatte seine Hände auf ihrem Körper. Überall.
Okay, ist gut jetzt.
„Ich lass euch mal noch fünf Minuten." Sie zwinkerte uns kurz zu, dann verschwand sie den Gang runter. Carter setzte sich derweil auf meine Bettkante.
„Wie fühlst du dich?", fragte er und drückte meine Hand.
„Alles cool", nuschelte ich und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. In meinem Kopf überschlugen sich die Wörter, gerieten durcheinander und es gelang mir einfach nicht, sie zu sortieren.
„Die haben dir sicher was in den Tropf getan", mutmaßt er.
„Okay, meine Hübschen, es wird Zeit für den Abschied", flötete Schwester Gloria.
„Viel Glück, Anna. Ich bin hier, wenn du aufwachst", versprach Carter mir leise.
Sanft strich er eine Strähne aus meinem Gesicht. Benommen nickte ich. Das Bett setzte sich in Bewegung und die Worte in meinem Kopf auch. Danke. Bis später. Doch das fand alles nur noch in meinem Kopf statt, der keine Verbindung mehr zu meinen Lippen zu haben schien und auch nicht zu meinem Körper
Bis ich diese Verbindung wiederfand, verging eine Zeit und als sie wederkehrte, war ich alles andere als begeistert. Denn mit der Rückkehr meines Bewusstseins kamen die Sorgen zurück. Die Sorgen darüber, ob alles gut verlaufen war und sich unter meinen Verbänden die Heilung normal gestaltete.
Dass Schwester Gloria mir erzählte, alles sei wunderbar verlaufen, beruhigte mich nur in winzigem Maße. Ich glaubte nur, was ich sah und im Moment war das verflucht wenig. Nur das Weiß der Mullbinde, die die Sicht ebenso unmöglich machte wie sauber essen oder alleine duschen. Ohne all die netten Schwestern hätte ich die Zeit nicht überlebt. Ich wäre verhungert, an meinem Körpergeruch erstickt oder vor Langeweile eingegangen, hätte die eine oder andere mir nicht geholfen, meine Hörbücher auf dem Handy zu starten.
Von Ian, Stella, Elaine und Carter hörte ich in der ganzen Zeit nichts. Nicht verwunderlich, denn sie führten ihr Leben weiter, während ich darauf wartete, dass meines ruckelnd die Fahrt wieder aufnahm und ich nicht mehr wie ein Baby von anderen abhängig war.
Lediglich Davis, der Einzige der sonst noch von der OP wusste, rief mich einmal am Tag an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Aber wirklich sagen konnte ich nichts, denn wenn der Verband entfernt wurde, tränten mir die Augen und dann kamen sie mir mit irgendeiner Salbe und zack war der Verband wieder drauf.
Auch diese Zeit hatte ein Ende. Und als ich das Krankenhaus verließ, noch mit empfindlichen Augen und einer Sonnenbrille, sah ich wortwörtlich in die Zukunft.
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...