SECHS

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In dieser Nacht schlief ich fürchterlich. Mein unruhiger Geist beschäftigte sich laufend mit der Frage, ob die Worte der Frau bedeuteten, dass es einen Finn gab oder nicht oder ob sie es schlicht nicht wusste. Ich sorgte mich schrecklich um den Fremden und stellte mir vor, wie er einsam in seinem Bett lag, sich nach einer Nähe sehnte, die er bei seinen Freunden nicht bekam.
Am Morgen war ich vollkommen gerädert. Selbst das Atmen erschien mir anstrengend, so zerschlagen war ich nach einer Nacht, in der ich mich ununterbrochen schlaflos hin und her gewälzt hatte. Unter Aufbietung meiner sämtlichen Kraftreserven schleppte ich in den Hörsaal, der heute weiter entfernt schien als üblich. Über die Anwesenden hinweg entdeckte ich Ian. Er sah direkt zu mir. Seine rauchgrauen Augen bohrten sich in meine und im selben Moment wie ich setzte er sich in Bewegung.
Im Ernst? Was sollte der Scheiß? Wir waren nicht mehr im Kindergarten! Kopfschüttelnd kapitulierte ich und nahm einen Platz weit hinten.
Der Klügere gibt eben nach, redete ich mir ein.
Dass ich klüger war als Ian, hätte ich zwei Stunden später nicht mehr beschworen. Meine Augen brannten und tränten, weil ich mich wie besessen auf die Tafelanschrift konzentriert hatte, um die Krähenfüße zu entziffern, die der Professor anschrieb.
Ian nervte mich gewaltig. Selbst Finn nervte mich, weil ich einen Weg finden musste, zu tanzen, um mein Versprechen zu halten.

Völlig übermüdet kippte ich am Nachmittag ins Bett und fiel in einen totenähnlichen Schlaf, aus dem ich erwachte, weil jemand energisch gegen die Tür hämmerte.
„Moment!", rief ich und setze mich schlaftrunken auf. Mit den Fingern fuhr ich durch meine verwüsteten Haare, tastete über meinen Nachttisch und das Fensterbrett. Wo hatte ich sie denn jetzt schon wieder abgelegt? Scheiß-Brille! Warum war ich nicht ein bisschen ordentlicher?
Langsam arbeitete ich mich zur Tür vor. Wie durch ein Wunder schaffte ich es dorthin, ohne mir etwas zu brechen, und öffnete dem Besucher, der immer wieder ungeduldig klopfte.
„Ja bitte?", fragte ich und kniff angestrengt die Augen zusammen, um eine Vorstellung zu bekommen, wer vor mir stand.
„Ist Stella da?", erkundigte sich mein Gegenüber. Aus Statur, der etwas rauen Stimme und dem Hauch nach Rauch, der den Besucher umgab, schloss ich...
„Ian?", vergewisserte ich mich und schob ein verblüfftes „Was willst du hier?" hinterher.
„Wusste nicht, dass ich neuerdings einen Grund brauche, meine Schwester zu besuchen", murrte er gereizt.
Schwester?
Oh. Nein. Scheiße!
„Entschuldige, das habe ich nicht gewusst. Ich kann nicht sagen, ob sie hier ist. Ich find meine Brille gerade nicht."
„Willst du mich verarschen, Anna? Stella ist nicht so winzig, dass man sie übersieht."
Selbst wenn ich Ian noch nicht lange kannte, hatte ich eine deutliche Vorstellung, wie das befremdete Gesicht zu seiner Stimme aussah. Den Ausdruck kannte ich in hundert Variationen. Erklärungen sparte ich mir und bot Stellas Bruder stattdessen an, bis zu ihrer Rückkehr hier zu warten.
„Ne, lass mal. Wollte nur was wegen der Party am Freitag fragen. Mit dir zu warten, kann nur langweilig werden. Du traust dich ja nicht mal, dich auf meinen Schoß zu setzen."
Ich hörte das Grinsen in seiner Stimme und bei der Anspielung auf mögliche Aktivitäten, die ihn und mich betrafen, bei denen man auf dem Schoß des attraktiven Iren saß, liefen meine Wangen wieder heiß an.
„Wobei mich schon interessieren würde, ob deine Haare überall rot sind", raunte er anzüglich. Was? Ich war sprachlos und starrte Ian an wie eine fremde Spezies. In diesem speziellen Fall war ich völlig ohne Brille sicher, in seine Richtung zu sehen und eine Bewegung seines Mundes zu erahnen, die ein überdeutliches Lächeln darstellte.
„Man sieht sich, Rotschopf. Und Anna? Deine Brille liegt übrigens auf deinem Schreibtisch neben der roten Mappe", informierte Ian mich einen Atemzug später fröhlich. Mit einem leisen Klicken schloss sich die Tür hinter ihm und ich hob beschämt meine Hände vor das Gesicht. Das hatte er nicht wirklich von sich gegeben. Lieber Gott! Wie kam dieser schreckliche Mensch dazu, über meine Schambehaarung zu spekulieren!


„Warum hast du nie erwähnt, dass Ian dein Bruder ist?", motzte ich Stella an, sobald sie am Abend das Zimmer betrat.
„Erschien mir nicht wichtig. Und er ist auch nicht wirklich mein Bruder. Nur die erträgliche Hälfte von ihm gehört mir. Mein Dad hatte eine Affäre mit seiner Mum. Hat Ian angedeutet, was er will?"
Stella warf ihren schwarzen Echtleder-Rucksack auf den Schreibtisch und ließ sich im Schneidersitz auf ihrem Bett nieder.
„Irgendwas wegen einer Party am Freitag", antwortete ich abwesend und starrte aus dem Fenster. Ob Finn meinen Brief schon bekommen und gelesen hatte? Ging es ihm gut?
„Anna, hörst du noch zu?", meckerte Stella.
„Nein. Sorry. Ich war grade in Gedanken. Entschuldige. Was wolltest du wissen?" Schuldbewusst sah ich zu ihr und wartete auf ihre nächsten Worte.
„Ich wollte gar nichts wissen. In Ians Verbindungshaus findet Freitag eine Party statt, da dachte ich, es wäre vielleicht nett, wenn du mitkommst."
Anna und Party in einem Satz in dem auch Ian vorkam? Eher nicht nichts, das für mich unter die Rubrik „nett" fiel.
„Ich denk nicht, dass Ian begeistert ist, mich dort zu sehen, Stella", teilte ich meine Ansicht mit ihr und war erstaunt, dass sie sofort und sehr nachdrücklich ihren Kopf schüttelte. Hübsch sah es aus, wenn ihre blonden Haare um ihren Kopf schwangen. Bei mir wirkte sowas eher, als würde ich einen Mopp ausschütteln.
„Das Haus wird rappelvoll sein. Ian wird dich nicht einmal bemerken, Anna."
Obwohl das, was sie da gerade behauptete, nicht unbedingt nett klang, rechnete ich ihr die Ehrlichkeit hoch an. Dennoch musste ich ihr in dem einem Punkt widersprechen.
„Ian suchte sich von allen möglichen Plätzen in einem Hörsaal immer genau den aus, den ich ansteuere. Glaub mir Stella, er wird mich bemerken!"
„Ach komm, jetzt mach dir deswegen mal nicht ins Hemd! Lass dem dämlichen Kerl seinen Spaß! Andere Mädchen würden sich eine Hand dafür abhacken, von ihm beachtet zu werden. Wenn es dir nicht passt, rede mit ihm und sag ihm, er soll's lassen."
Zweifelnd starrte ich Stella an. Sie konnte nicht so naiv sein, zu glauben, jemanden wie Ian würde interessieren, was eine wie ich wollte. Weil ich keine Lust auf weitere Diskussionen hatte, würgte ich Stella mit einem „Hab Freitag was anderes vor" ab.
Stella legte den Kopf schief, sodass der Vorhang ihrer seidigen Haare über ihre schmalen Schultern rutschte. Neugier stand ihr überdeutlich ins Gesicht geschrieben.
„Mit dem Typen, der dir den Brief geschrieben hat?"
Sofort setzte ich mich auf, schöpfte Hoffnung, zu ein paar Informationen über meinen unbekannten Schreiber zu kommen.
„Hast du ihn etwa gesehen?"
Gespannt warte ich auf Stellas Antwort, die ernüchternd ausfiel und mich keinen Deut weiterbrachte.
„Hä? Na klar! Lag ja direkt im Fach unter meinem!"
Meine Hoffnung fiel in sich zusammen wie ein Kartenhäuschen.
„Oh", murmelte ich enttäuscht, als ich begriff, dass sie den Umschlag meinte und nicht, dass sie Finn gesehen hatte.
„Ich dachte, du hättest ihn vielleicht gesehen, als er den Brief abgegeben hat", stellte ich klar, was mein Hintergedanke bei der Frage war. Nur für den Fall, dass meine Mitbewohnerin nicht so helle war, wie ich zunächst gedacht.
„Dann weißt du gar nicht, von wem der Brief ist?" So wie sie die Stirn runzelte, hatten wir soeben Rollen getauscht und sie zweifelte an meinem Verstand.

„Doch. Das heißt, nein."
„Also was denn jetzt? Entscheide dich mal Anna!" Sie riss ihre blauen Augen fragend auf. Ein bisschen wirkte sie, als wäre sie aus einem japanischen Comic gesprungen. Selbst ihre schlanke Gestalt und die langen Gliedmaßen passten perfekt zu einem Manga-Charakter. Von der Beobachtung etwas abgelenkt, antwortete ich ihr:
„Ich weiß, dass er Finn heißt. Aber ich hab ihn noch nie gesehen."
„Finn also?" Sie legte den Kopf schief. „Ich kenn keinen Finn. Aber wenn du willst, kann ich mal Ian fragen. Vielleicht weiß er, wer dein Verehrer ist. Der kennt einen Haufen Leute." Ihr Gesicht leuchtete vor Begeisterung über ihre Idee.
Okay, das lief hier in eine vollkommen falsche Richtung. Das musste ich aufklären, bevor Stella rumerzählte, Finn sei mein Romeo. Nicht, dass sich das zu ihm rumsprach und er es in den falschen Hals kriegte.
„Er ist nicht direkt ein Verehrer. Ich... er hat mich nur ermuntert, nicht mit dem Tanzen aufzuhören."
Verstehend nickte Stella. Ihre Augen leuchteten aber beängstigend hell. Ob sie mir die Erklärung abgenommen hatte oder nicht, war ich nicht sicher. Wahrscheinlich aber nicht.
„Vielleicht war er beim Workshop? Und hat mitbekommen, wie Grayson dich behandelt hat. Wäre doch denkbar?", spekulierte Stella mit schräggelegtem Kopf. „Und jetzt will er dich in die richtige Richtung stupsen?"
„Möglich", pflichtete ich Stella bei. Denkbar war alles. Immerhin redeten wir über einen völlig Fremden. Wie sollte ich beurteilen, was ihn antrieb? Das gelang mir nicht mal bei Menschen, die ich über Jahre um mich hatte.
„Und weißt du was? Ich finde auch, dieser Finn liegt mit seiner Einschätzung richtig. Lass Dich nicht entmutigen! Wenn du tanzen willst, tu es. Abends, wenn kein Unterricht ist, stehen die Säle für alle offen. Du musst nur deine Musik über Kopfhörer hören."

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt