DREIUNDVIERZIG

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Am nächsten Morgen erwachte ich viel zu früh. Eine kurze Kontrolle meines Handys ergab, dass ich locker noch eine Stunde schlafen konnte. Aber ein Blick auf Ian, der neben mir auf dem Bauch lag, reichte und all die Erinnerungen an den Vortag waren wieder da. Sie erfüllen mich mit einer kribbeligen Energie, während ich Ian beim Schlafen beobachtete. Er hatte sich auf den Bauch gedreht, das Sofakissen umklammert und sein Gesicht war halb von seinem Arm verborgen. Ich hatte es immer für ein Gerücht gehalten, man würde im Schlaf jünger aussehen. Ian wirkt gerade aber kein bisschen wie zwanzig, eher als wäre er sechzehn oder siebzehn und ein Ausbund der Unschuld. Grübelnd betrachtete ich ihn. Versuchte zu ergründen, woran es lag. Vielleicht daran, dass er im Schlaf entspannt war und all die Mimikfalten verschwanden, die ihn sonst etwas Zynisches und Überhebliches verliehen.

Zögernd streckte ich eine Hand aus. Da war diese verirrte Strähne, die über seine Stirn herabfiel und fast bis auf seine Nase. Nur traute ich mich nicht, sie zur Seite zu streichen. Er hatte das bei mir ein paar Mal gemacht. Es war eine sanfte und zärtliche Geste, an die ich mich nur allzu leicht gewöhnen konnte und ich hätte sie nur zu gerne erwidert. Aber ich wollte ihn nicht wecken, redete ich mir ein. Auf gar keinen Fall ließ ich die Hand in meinen Schoß sinken, weil ich mich nicht traute, ihn zu berühren. Nein, ich doch nicht. Mut war mein zweiter Vorname!

Okay, ich war ein Feigling. Aber sowas wie das hier, schlafen neben einem Jungen, das war Neuland und wie Ian es so freundlich zusammengefasst hatte: nüchtern war ich schüchtern.

Noch einen Moment beobachtete ich ihn. Vielleicht gab es eine andere, weniger körperliche Weise, auf die ich ihm zeigen konnte, dass ich ihn mocht. Schnell kontrollierte ich, wie spät es inzwischen war. Die Zeit sollte mir noch reichen.

Leise stand ich auf und schlich auf Zehenspitzen in die Küche, wo ich die Schränke auf der Suche nach Tellern durchstöberte und die Schubladen nach Besteck. Mit meinen Fundstücken deckte den Tisch fürs Frühstück und schaltete die Kaffeemaschine an. Das war eine leichte Aufgabe. Bis ich Mehl gefunden hatte, um einen Pfannkuchenteig zuzubereiten, brauchte ich eine Weile und bis ich einen Schneebesen fand, dauerte es nochmal so lang. Das System, nachdem Ian seine Küche sortiert hatte, erschloss sich mir nicht in allen Punkten. Vielleicht dachte ich aber auch anders als ein Junggeselle oder es gab kein System. Im Grunde sollte ich froh sein, dass sich in seiner Küche etwas anderes als Tütensuppe und Ravioli aus der Dose befand.

Den Teig zu rühren, ohne dabei einen Höllenlärm zu machen, gleichzeitig aber Klümpchen zu vermeiden, war eine Aufgabe, an der ich beinahe verzweifelte. Als ich den ersten goldgelben Pfannkuchen gebacken hatte und auf einen Teller legte, wusste ich, dass meine Mühe sich gelohnt hatte. Der Duft von Kaffee und mischte sich mit dem des warmen Teiges.

Während ich den ersten Pfannkuchen zum Warmhalten in den Ofen stellte, ließ ich beinahe vor Schreck den Teller fallen. Ich war so vertieft, dass ich Ian nicht hatte kommen hören und nun lehnte er am Türrahmen, von wo aus er mich mit glühendem Blick musterte.

„Guten Morgen", murmelte ich verlegen und kam mir plötzlich total bescheuert vor. Was genau hatte ich mir gedacht, seine Küche zu benutzen? Vielleicht wäre ich besser nach Hause gefahren. Das hier war... unpassend, wurde mir klar.

Ian sagte kein Wort. Er starrte mich nur fasziniert an. Als wäre ich eine Erscheinung und er selbst nicht sicher, was er von alldem halten sollte. Mit zusammengepressten Lippen stellte ich den Teller in den Ofen. Peinlicher ging es fast nicht mehr. Aber der Teig war fertig. Ich konnte es also ebenso gut durchziehen und die nächste Kelle in die Pfanne geben.

„Guten Morgen, Rotschopf."

Erschrocken zuckte ich zusammen, weil Ian plötzlich hinter mir stand und irgendwo auf dem Weg zwischen Türrahmen und Herd seine Stimme wiedergefunden hatte. Eine Stimme, die vom Schlafen rau war und kleine Schauer über meine Haut schickte. Vielleicht war es aber auch sein Atem, der an meinem Hals kitzelte, weil er mir über die Schulter sah. Mit dem rechten Arm griff er an mir vorbei zu dem Glas Nutella, das ich in einem der Schränke gefunden hatte. Den linken stützte er neben mir auf die Arbeitsplatte. Den Pfannkuchen zu wenden und mich nicht von Ians Nähe ablenken zu lassen, fiel mir verdammt schwer. Besonders als er mir einen Kuss in den Nacken drückte.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt