ACHTUNDFÜNFZIG

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Lachen oder weinen? Keine leichte Entscheidung in dieser vollkommen absurden Situation. Also schob ich den Beschluss darüber von mir und schlich stattdessen näher. Dadurch erschloss sich mir die seltsame Haltung des Arms: vom Daumen bis zur Schulter war er eingegipst. Nicht irgendein Arm. Der Wurfarm eines Football-Spielers. Sein Traum, sein Kapital, lag verletzt und verdreht neben seinem Körper.

Geschockt schlug ich die Hand vor den Mund und ließ mich vor dem Bett auf die Knie sinken.

„Oh mein Gott, Davis!" Obwohl ich flüsterte, schrak er sofort hoch.

„Anna! Endlich!" Er klang so erleichtert, dass ich mein „Du hättest wenigstens anrufen können, bevor du mich überfällst!" runterschluckte.

„Was machst du hier?" Meiner Stimme war anzuhören, wie wenig begeistert ich war, Davis hier zu sehen. Ich nahm an, das war meinem Stiefbruder zuvor schon klar gewesen.

Umständlich zog er seinen Arm Richtung Oberschenkel und richtete ihn dort ein, bevor er sagte: „Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsoll."

„Nach Hause, Davis!", platzte ich heraus. „Zu deinem Dad!"

Dann kapierte ich es.

„Dein Ernst? Du hast es ihm noch nicht mal erzählt, oder?"

„Nein."

„Davis, du kannst nicht..."

Noch nicht, Anna. Ich sag es ihm."

„Wann?"

„Bald?"

„Davis!"

„Ja, schon gut. Sobald ich sicher bin, das Stipendium nicht zu verlieren?"

Mühsam schnappte ich nach Luft.

„Und bis dahin?"

„Bleibe ich hier."

„Nein!"

„Anna, bitte! Sieh mich an. Ich komme allein nicht zurecht. Alles ist megaumständlich. Sogar Zähneputzen ist eine Herausforderung! Über Duschen und Haare waschen will ich nicht mal nachdenken!"

Über die Dinge, die das implizierte, wollte ich nicht mal nachdenken. Schon gar nicht darüber, wie lange er möglicherweise darauf verzichtet hatte und was das für meine Bettbezüge bedeuten mochte, mit denen er gerade ziemlich eng war.

„Ich werde dich nicht duschen, Davis! Das kannst du knicken!", protestierte ich und wedelte ablehnend mit ausgestreckten Armen in seine Richtung.

„Ach, komm schon, Anna! Du hast immer gesagt, wir werden sowas wie Geschwister! Dann sollte dir das nichts ausmachen, oder?", stichelte er. In Anbetracht der Tatsache, dass er hoffte, ich würde ihm helfen, war es mutig, mich auch noch zu necken.

Mein Schweigen dehnte sich. Mein Kopf war nach all den Ereignissen der letzten Tage wie leergefegt, meine Gedanken und Überlegungen waren zäh wie Melasse. Schließlich kam ich nach einer gefühlten Ewigkeit zu dem Ergebnis, dass er recht hatte und es mir nichts ausmachen sollte, wenn Davis mich um Hilfe bat. Und das würde es auch nicht, wäre da nicht diese winzige Kleinigkeit. Das kurze Aufblitzen einer unerwünschten Tatsache. Wir waren nicht wirklich Geschwister. Und Davis war attraktiv. Ein dunkler Engel in einem göttlichen Körper.

Davis hob eine Augenbraue, als könne er meine Gedanken lesen.

„Oder?", bohrte er nochmal nach. Ich stand mit dem Rücken an der sprichwörtlichen Wand. Sagte ich nein, dann war es für ihn der Beweis, dass wir niemals sowas wie Geschwister sein würden. Half ich ihm beim Duschen und geriet dabei in Verlegenheit, dann war es für mich der Beweis, dass ich von Anfang an Unrecht hatte. So oder so: aus dieser Nummer ging ich als Verliererin hervor. Aber lieber wusste nur ich von meinem Irrtum, was unsere Familienverhältnisse anging.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt