EINUNDSIEBZIG

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...,dass ich diesen Anblick nie wieder genießen konnte. Für den Fall, dass ich mein Augenlicht verlor, war dies die letzte und greifbarste Erinnerung an den Ozean.

„Alles okay?", erkundigte sich Carter zum dritten Mal, als wir festen Boden unter den Füßen hatten und er uns aus unseren Gurten befreite. Mit butterweichen Knien ließ ich mich auf den Sand sinken und nickte überwältigt.

„Das war unglaublich, Carter!", versicherte ich ihm. „Aber bestimmt total verboten, oder?"

„Hm, gut möglich, dass Mac das als nicht regelkonform bewertet", gab er zu. Dann widmete er sich dem Fallschirm, der wie ein erschossenes Zelt auf dem Boden lag. Unerklärlich, wie er es schaffte, aus den verwirrend vielen Leinen und den Unmengen Stoff ein kompaktes Gebilde zu machen, das man als ordentlich bezeichnen konnte.

„Ich dachte immer, ihr Marines habt eher mit Wasser zu tun", sinnierte ich.

„Ja und nein", sagte Carter ausweichend und ließ sich ebenfalls auf dem Sand nieder. Er klopfte seine Jacke ab, fand schließlich, was er suchte. Mit einer Hand schirmte er die Spitze der Zigaretten gegen den scharfen Wind ab, mit der anderen hielt er sein Sturmfeuerzeug an die Spitze, bis sie rot aufglühte.

„Die US-Marines gehören im engeren Sinne zur Marineinfanterie, sind aber gleichzeitig eine Teilstreitkraft, die auf schnelle schlagkräftige Manöver und amphibische Einsätze spezialisiert ist. So nebenher wickeln wir noch Spezialaufgaben ab und werden gerne zur Absicherung sensibler Gelände abgestellt, wie ein besserer Sicherheitsdienst quasi. Den Hubschrauber des Präsidenten fliegen üblicherweise auch Marines aus Quantico."

Bei seinem letzten Satz klang Carter ein bisschen wehmütig, als wäre genau das sein Ziel gewesen. Irgendwann den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu begleiten und zu schützen. Stattdessen saß er hier mit einer Zigarette in der Hand und starrte auf das Meer, das unbeeindruckt von allen Kümmernissen, die uns niederdrückten stetig heranrollte und wieder abrückte.

„Denkst du, du hättest es schaffen können? Ich meine, zu dieser Einheit?"

Carter drückte seine Zigarette im feuchten Sand aus und legte sie zurück in die Schachtel.

„Das ist nicht mehr wichtig, Anna. Ich bin dienstuntauglich und das ist inzwischen okay. Ich habe einen guten Job, nette Kumpels und Zeit, mich um Elaine zu kümmern."

Stirnrunzelnd sah ich ihn an.

„Wo ist Elaine, wenn du nicht zu Hause bist? Also ich meine sowie heute? Oder wenn du nachts arbeitest?"

„Elaine ist ein großes Mädchen. Sie braucht niemanden, der sie dauernd bemuttert. Sie hatte Freunde, die sie traf. Sie hatte daheim Essen und Netflix. Und sehr viele Freiheiten, die andere Teenager nicht hatten. Klar macht sie ab und an auch Blödsinn. Da möchte ich sie am liebsten einsperren bis sie achtzehn ist, aber im Großen und Ganzen, kommen wir gut über die Runden."

Eine diffuse Sorge packte mich ohne Vorwarnung.

„Und heute? Ich meine, du bist drei Stunden entfernt! Was ist, wenn sie sich verletzt? Oder sie plötzlich krank wird? Oder ihr jemand blöd kommt und sie Hilfe braucht? Jemanden zum Ausheulen?"

„Dann geht sie zu Mr. Smith", sagte Carter lapidar, was mich keineswegs beruhigte. Bei Mr. Smith dachte ich automatisch an das Auftragskillerpärchen, das sich gegenseitig töten soll. Brat Pitt in dieser Rolle war niemand, den ich mir als Babysitter oder Teenager-Sitter vorstellen wollte. Dann eher Will Smith als Man in Black.

„Dein Tag war Scheiße? Kein Problem! Du wirst geblitzdingst!" Und mal abgesehen davon: die meisten Triebtäter kamen aus dem näheren Umfeld des Opfers.

„Wer ist bitte Mr. Smith?", fragte ich also etwas spitzer, als nötig und deutlich forscher, als es mir zustehen würde.

„Ein Nachbar. Er wohnt im Nebenhaus."

„Aha. Und du kennst ihn jetzt wie lange?"

„Keine Ahnung? Ein Jahr ungefähr. Seit ich da wohne eben."

„Und das findest du normal? Also, vielleicht wäre eine nette alte Dame besser?", schlug ich vorsichtig vor. Zu meiner Überraschung lachte Carter mal wieder nur und nahm meine ehrliche Sorge gar nicht ernst.

„Mr. Smith ist eine nette alte Dame. Er ist mehr Frau als du dir vorstellen kannst. Mum und er haben sich gegenseitig die Fußnägel lackiert. Er gibt Elaine Schminktipps und schneidet ihr die Haare. Und jetzt hör auf, dir ständig Gedanken über andere zu machen und sieh lieber zu, dass du ins Meer kommst, bevor der Jeep kommt, um uns einzusammeln."

„Sicher nicht, Carter. Hast du dir mal die Wellen angesehen? Und Unterströmungen gibt es da sicher auch. Was, wenn ich meine Brille verliere und nicht mehr weiß, wohin ich schwimmen muss?"

„Was wenn", äffte mich Carter nach. „Dann rette ich dich eben!"

Äußerst zielstrebig packte er den Saum seines Shirts. Mir blieb echt die Spucke weg bei Carters Anblick. Wenn dieser Körper dienstuntauglich war, dann stimmt mit den Evaluierungsbögen grob was nicht. Sehr unangenehm, meine Kleidung neben seiner in den Sand fallen zu lassen. Aber vermutlich war Carter es gewöhnt, dass beinahe jeder andere neben ihm wie ein Gartenzwerg mit dem Muskeltonus labbriger Pommes wirkte.

Zum Glück war es bis zum Wasser nicht weit und ich konnte meinen sahneweißen Körper zwischen den Wellen verstecken. Vermutlich blendete ich gerade die Fische oder löste ein Massensterben des Planktons aus, weil ich so viel Licht reflektierte als wäre ich eine zweite Sonne.

„Am besten schwimmen wir nicht mehr als zwei Kilometer raus", riet mir Carter todernst und leicht zerknirscht. „Ich bin wirklich nicht mehr gut in Form."

„Gut, dass wir darüber gesprochen haben. Wäre wirklich blöd, wenn ich bei Kilometer drei einen Krampf bekäme und wir beide ertrinken würden."

„Tut mir echt leid, Anna. Aber vielleicht kann einer von den Jungs mit dir..."

„Carter! Seh ich aus wieein Fisch? Ich schwimme keine fünfhundert Meter da raus!", unterbrach ich ihnkopfschüttelnd. Manchmal hatte er wirklich Ideen!

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt