Geschminkt war ich am Ende nicht, aber ich trug figurbetonte Jeans und eine blauweißgestreifte Tunika mit einer Raffung direkt unter der Brust, deren oberste Knöpfe ich offenließ, damit mein Dekolletee von meinem Gesicht ablenkte. Der dünne Baumwollstoff fiel weich bis zu meinen Hüften und die senkrechten Streifen betonten meine schlanke Figur. Hellbraune Riemchen-Sandalen, die ich mir für einen Tango-Kurs gekauft hatte, mit einer Absatzhöhe von acht Zentimetern, ließen mich ein gutes Stück größer wirken.
„Na dann mal los, meine Hübschen", forderte Ian uns auf und mein Schminktäschchen umklammernd folgte ich ihm.
Vor der dunklen Limousine blieb Stella wie angewurzelt stehen und blickte ihren Halbbruder schockiert an.
„Dad bringt dich um, wenn er das rausfindet", hauchte sie.
Ian zuckte desinteressiert mit den Achseln.
„Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß!", beschied Ian die Blonde unterkühlt. „Und Onkel Cal ist alt genug, um seine Entscheidungen ohne seinen Bruder zu treffen, nicht wahr?"
Verhalten nickte Stella, hundertprozentig einverstanden wirkte sie von der Einschätzung ihres Bruders nicht.
„Aber...", startete sie einen neuerlichen Versuch, Ian in welcher Hinsicht auch immer, zur Vernunft zu bringen. Diesen brach sie mit Blick zu mir wieder ab, lächelte bemüht und schob mich, eine Hand auf meiner Schulter, durch die hintere Tür ins Wageninnere und kletterte selbst hinterher. Drinnen nahm mir Stella mein Täschchen mit aus der Hand. Während Ian fuhr, widmete sie sich meinen Augen. Wimperntusche, Eyeliner, Lidschatten trug sie auf. Alles trotz des Wackelns im Wagen, ohne nur einmal zu patzen. Nachdem sie mit ihrem Werk zufrieden war, tupfte sie ein wenig Rouge auf meine Wangen.
„Du musst dich gar nicht richtig schminken", erkannte sie etwas neidisch an. „Und trotzdem siehst du toll aus. Ich hätte gerne solche Haut wie du." Seufzend fuhr sie mit einem Finger über meine Wange.
Ian warf seiner Schwester über den Rückspiegel einen Blick zu.
„Mal nicht jeden Tag ein Pfund Schminke ins Gesicht kleistern. Dann hättest du vielleicht bessere Haut", stichelte er mit einem liebevollen Unterton und schalkhaft blitzenden Augen.
Stella steckte ihm die Zunge raus und Ian lachte. Ich zwang mich zu einem vorsichtigen Lächeln. Was half die reinste Haut, wenn jeder nur die Narbe sah?Im Laufe der Fahrt traute ich mich Stella zu fragen, wie die Partys bei Ian denn so waren. Sie tätschelte beruhigend mein Knie und behauptete, ich müsse mir keine Sorgen machen, sie seien nicht so wild, wie man sie aus Filmen kannte.
Ian schnaubte vorne am Lenkrad.
„Aber Nate gibt sich Mühe bei der Orga und kommt Party für Party näher ran an die Filmreife", behauptete Ian felsenfest. „Wenn ich dir einen Rat geben darf: Finger weg vom Orangensaft und von offenen Getränken."
Kurz trafen sich unsere Augen im Rückspiegel und Besorgnis schimmerte in seinen. Er öffnete den Mund, überlegte er es sich anders und richtete den Blick zurück auf die Straße.
Die kurze Fahrt endete damit, dass Ian uns vor einer historisch anmutenden Villa aussteigen ließ, die in einem malerischen Garten ruhte. Diese Studentenverbindung, zu der Ian und Nate gehörten, schien quasi in Geld zu schwimmen. Allein der Unterhalt eines Gebäudes dieser Größe kostete ein Vermögen! Was den ersten Eindruck verdarb, war das Klopapier, das als wenig dekorative Girlande in den Hecken, Büschen und Bäumen hing, in jeder anderen Hinsicht war ich fasziniert vom Anblick und der mühelosen Eleganz, die das Haus ausstrahlte.
In Gruppen standen Leute draußen beim Rauchen und nickten Ians Schwester zu oder winkten ihr, was sie freundlich erwiderte. Ich selbst paddelte in Stellas Bugwelle den Gartenweg entlang und erklomm hinter ihr die Steintreppe, über der sich ein von Säulen getragener Balkon aufspannte, wie ich ihn mir für die Balkonszene in Romeo und Julia besser nicht vorstellen konnte. Sogar das Spalier, an dem sich ein Efeu mit riesigen Blättern emporrankten, hätte der Theaterheld bei einem nächtlichen Stelldichein das Leben erleichtert.
„Okay", murmelte Stella verschwörerisch neben mir, als wir vor dem tiefbraunen, schweren Portal standen, das uns von der Party im Inneren trennte, aber deren Geräusche weit über den Garten trugen.
„Wir teilen uns hier auf und gegen kurz vor elf treffen wir uns im Garten am Brunnen für einen Zwischenstand."
Überwältigt von dem Lärm, als sie die Tür aufzog, dem Rauch in der Luft, den vielen Menschen, die sich vor mir förmlich stapelten und dem Gedränge und Geschiebe Richtung Küchentür, nickte ich lediglich.
„Und denk dran, wie unsere Frage heißt, Anna!", erinnerte sie mich unnötigerweise.
Wieder nickte ich und antworte automatisch: „Hast du Finn gesehen?"
Stella lehnte sich ein wenig zu theatralisch zurück und hob zur Bestätigung ihre Daumen, kurz darauf tauchte sie in der bunten Menge unter. Unschlüssig, was ich tun sollte, stand ich ein bisschen abseits blöd im Weg herum, dann folgte ich dem Strom Richtung Küche, passierte Arbeitsflächen, die mit roten Plastikbechern um die Gunst der Partygäste buhlten und ließ mich zum Kühlschrank treiben. Gut möglich, dass ich aussah, als wüsste ich nicht, was eine Party war. Dabei war ich quasi die Partyexpertin. Immerhin hatte beinahe an jedem Wochenende, an dem unsere Eltern weg waren, eine unter unserem Dach stattgefunden. Daher wusste ich genau, dass die einzigen Getränke, die ich anfassen würde, jene waren, die fest verschlossen im Kühlschrank lagerten.
Wie zu erwarten gab es dort Bier. Ich stöberte herum und stieß auf weiteres Bier. Und noch mehr Bier.
Oh! Und Cider! Das war meine Kragenweite.
Weil es keinen Flaschenöffner gab, nahm ich mir eine zweite Flasche als Hebel zur Hilfe. Zischend sprang der Deckel ab und ein Typ, der am Küchentresen lehnte, warf mir nach diesem Kunststückchen einen interessierten Blick aus leicht glasigen Augen zu. Die Oberweite passte ihm gut in den Kram, langsam checkte er den Rest meines Körpers ab, zuletzt fiel sein Blick auf mein Gesicht. Wie zu erwarten bekam ich ein schmales Lächeln und er verließ die Küche. Hätte ich ihm anbieten sollen, dass wir beim Knutschen das Licht auszumachen? Frustriert schnaubte ich. Was für ein oberflächlicher Arsch!
Mit meinem Getränk in der Hand folgte ich dem Lärm, unter den sich Gejohle und Pfiffe mischten. Die Quelle war schnell ausgemacht: auf einem Tisch entblößte sich unter lautem Applaus und Anfeuerungsrufen eine Frau. Falsche Titten, blonde Extensions, dick aufgespritzte Lippen, sodass sie aussah wie ein Goldfisch. Eindeutig die Stripperin von der Ian gesprochen hatte. Ihn selbst entdeckte ich weit vorne im Publikum. Lässig hatte er den Arm um Nora gelegt, in der freien Hand hielt er ein Bier, von dem er gelegentlich trank. Noras Arm lag um seine Mitte. Immer wieder sah sie zu Ian hoch und er küsste sie lächelnd auf ihre in einem dunklen Rot nachgezogenen Lippen.
Inzwischen stand die Stripperin in zu vernachlässigend knapper Unterwäsche auf dem Tisch. Ihre Hände wanderten lasziv zu ihrem BH. Ian ließ Noras Schulter los, langte, wie einige andere ebenfalls, in seine Hosentasche und schob der Blonden mit ihrer billig blondierten Mähne Geldscheine in ihr schwarzes Spitzenhöschen.
Bevor der BH fiel, wendete ich mich ab, trank mir mit dem Cider eine Portion Mut an. Fruchtig an der Grenze zu klebrig lag er auf meiner Zunge und löste diese als ich die Nächste, die mir begegnete, ansprach: „Hast du Finn irgendwo gesehen?"
Sie runzelte kurz nachdenklich die Stirn, schüttelte den Kopf und steuerte an mir vorbei. Die Zweite, bei der ich mich traute, schüttelte ebenfalls den Kopf, fragte dann vorsichtshalber ihren bulligen Begleiter, ob dieser Finn gesehen hätte. Auch er verneinte und ich wendete mich meinem nächsten Opfer zu.
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BLINDFOLDED - Blindes Vertrauen
RomanceManchmal muss man blind vertrauen: Anna findet Ian unerträglich. Selbstverliebter Mädchenschwarm. Der Mittelpunkt seines Universums. Rauchender Partygänger, der Gott und die Welt kennt. Genau der Typ, den Anna meidet wie der Veganer das Fleisch. Doc...