VIERUNDSECHZIG

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Nach der misslungenen Unterredung mit Ian hatte ich keine Lust mehr auf eine weitere Lehrveranstaltung. Nicht zuletzt, weil sich ein fieses Pochen hinter meiner Stirn eingenistet hatte und meine Nase völlig verstopft war. Atmen konnte ich nur noch durch den Mund.

Was für eine Zeitverschwendung!

Ich hätte heute Morgen liegenbleiben sollen, die Decke über den Kopf ziehen und mich krankmelden. Letzteres holte ich jetzt nach. Im Anschluss an den Besuch im Sekretariat für meine Krankmeldung trottete ich zur Mensa, besorgte mir dort Thai-Curry im Pappbecher und schleppte mich damit zum Wohnheim. Aus dem leichten Halskratzen, das ich am Morgen verspürt hatte, war ein ausgewachsener Halsschmerz geworden, der jede Schluckbewegung zu einer Herausforderung machte. Trotzdem zwang ich mir die kleine Mahlzeit rein, bevor ich mich erschöpft auf mein Bett fallen ließ.

Was für ein Mist. Ich soltel heute im Projekt die Fives coachen. Dabei hatte ich nicht mal mehr die Energie, meine Take-away- Schachtel zum Müll zu tragen. Und morgen sollte ich mit Carter zu diesem Arzt fahren, der in einem Militärkrankenhaus in drei Stunden Entfernung arbeitete.

Und dann war da noch die Sache mit dem Workshop. Aus einem unverständlichen Grunde hatte Grayson mir ein Video geschickt, mit der unmissverständlichen Aufforderung zur Teilnahme, andernfalls würde er meinen Kurs wegen fortgesetzten Schwänzens mit einer schlechten Note bewerten. Also musste ich musste es unbedingt schaffen, mir die Schritte bis Montag einzuprägen. Nur fürchtete ich, mein Wattehirn wurde dank der Erkältung das Abspeichern neuer Infos verweigern. Schon jetzt konnte ich mich kaum noch an den Inhalt der Vorlesung erinnern. Erschöpft ließ ich mich auf meinem Bett nach hinten sinken, ohne die blasseste Ahnung zu haben, wie ich den morgigen Tag überstehen sollte, geschweige denn den heutigen. So mies hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Vermutlich seit ich in meinem letzten Ferienlager Sommergrippe hatte.

Vage drängte sich mir noch der Gedanke auf, dass ich vielleicht mal nach Davis sehen sollte. Aber nicht jetzt gleich.

Später.

Bevor ich ins Projekt fuhr. Vielleicht wäre ein Wecker gut. Aber der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war. Bei geschlossenen Augen vermischte er sich in meinem Kopf mit Erinnerungen, Wunschträumen und wirren Ideen zu einem unübersichtlichen und unwirklichen Traumgeschehen, das mit der Realität nur noch ausgesprochen wenig zu tun hatte. Bis ich den Übergang vom Dösen in den Tiefschlaf schaffte, schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der Ian, der keinesfalls mein Retter war, die Oberhand über meine durcheinander geratenen Gedanken übernahm. Ich bin nicht der Typ für ernste Sachen. Wie kleine Seifenblasen schwebten Erinnerungen an gemeinsame Stunden durch meinen Kopf, zerplatzten und machten anderen Platz. Für dich würde ich was Ernstes versuchen. Ich legte meinen Unterarm über die Augen, weil es mir im Zimmer zu hell war. Ich war eifersüchtig auf Nates Hemd. Im Vergleich zu meinem Kopf fühlte sich mein Unterarm kühl an meiner Stirn an. Deine Haare sind wie flüssiger Bernstein. Das war aber von Finn. Er hatte es mir geschrieben. Machte das einen Unterschied? Gott, ich war so müde. Konnte ich bitte schlafen? Geh nicht, lass mich erklären...

Je mehr ich mich wehrte, desto mehr Kleinigkeiten fielen mir ein. Sein schiefes Grinsen. Wie weich seine Haare waren. Wie fest sich seine langen, definierten Muskeln anfühlten. Und wie er mich küsste. An die Puddingknie, die er mir damit verursacht hatte und dieses Kribbeln im Bauch. Tanz mit mir. Mit niemandem war es je so einfach, alles zu vergessen wie mit Ian. Noch nie hatte ich jemanden so sehr vermisst, dass mein ganzer Körper schmerzte. Oder lag das an der Erkältung? Bestimmt hatte ich Tränen in den Augen, als ich endlich einschlief.

Erinnern konnte ich mich nicht daran, aber als ich ein paar Stunden später von anhaltendem Brummen geweckt wurde, fühlten sich meine Augen wund an. Jedes Blinzeln kratzte, als würde ich mit Schmirgelpapier über meine Bindehäute reiben.

BLINDFOLDED - Blindes VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt